V. Ernste Ueberlegungen -- Waffen gegen Langeweile.
legen, wenn ihm eine berathende Stimme über die Auswahl zugestanden würde.
Jeder, der im Süden sein Winterquartier als Curgast nehmen will, hat übrigens vorher alles Ernstes nicht nur mit seinem Hausarzte, sondern auch mit sich selber zu Rathe zu gehen. Unter Umständen, z. B. wenn seine Krankheit schon sehr weit vorgeschritten, oder es ihm gar zu schwer wird, sich von den Seinigen zu trennen, oder wenn er überaus weichlich und abhängig von Gewohnheiten ist, thut er gewiß oft besser, daheim zu bleiben. In vielen Winterstationen (der Buchstabe M. führt deren allein vier ersten Ranges auf: Meran, Montreux, Mentone, Madeira) sieht man nur zu häufig Gestalten, denen im Gesicht ge- schrieben steht, daß an ihrem Herzen der Gram des Heimweh nagt, verheerender noch als die Tuberculose an ihrer Lunge. Ich glaube, einige von Euch, Ihr Herren Hausärzte, geben das consilium abeundi etwas zu rasch. Nichts für ungut! --
Eine Ideenverbindung, die keiner Erläuterung bedarf, führt uns von Curorten und Pensionen auf -- die Langeweile.
So Mancher, der durch Noth, Ehrgeiz, Pflichtgefühl oder andere starke Triebfedern Jahr aus Jahr ein in an- gestrengter Thätigkeit gehalten wird, benutzt gern die kurzen Rasten, die ihm bei seiner Familie und seinen Freunden vergönnt sind, um über die "Last der Arbeit" zu klagen und seine brennende Sehnsucht nach Ruhe auszusprechen. Erst wenn ihm einmal diese Ruhe für längere Zeit auferlegt ist, sei es zwangsweise, durch Kränklichkeit, Alter, Verhältnisse, Personen, oder sei es, daß ihn sein eigener freier Entschluß in Ruhestand versetzt hat, weil er "nun endlich einmal sein Leben, die Früchte seiner Thätigkeit, genießen möchte" -- erst dann bemerkt er, welcher Segen auf der Arbeit, der berufs- mäßigen, geregelten, zwingenden Arbeit liegt. Selbst das ehemalige Uebermaß, welches er so oft verwünschte, tauschte er gern ein gegen den jetzigen völligen Mangel. Bevorzugte, hochgeborene Naturen gibt es zwar, Dichter und Denker, die
V. Ernſte Ueberlegungen — Waffen gegen Langeweile.
legen, wenn ihm eine berathende Stimme über die Auswahl zugeſtanden würde.
Jeder, der im Süden ſein Winterquartier als Curgaſt nehmen will, hat übrigens vorher alles Ernſtes nicht nur mit ſeinem Hausarzte, ſondern auch mit ſich ſelber zu Rathe zu gehen. Unter Umſtänden, z. B. wenn ſeine Krankheit ſchon ſehr weit vorgeſchritten, oder es ihm gar zu ſchwer wird, ſich von den Seinigen zu trennen, oder wenn er überaus weichlich und abhängig von Gewohnheiten iſt, thut er gewiß oft beſſer, daheim zu bleiben. In vielen Winterſtationen (der Buchſtabe M. führt deren allein vier erſten Ranges auf: Meran, Montreux, Mentone, Madeira) ſieht man nur zu häufig Geſtalten, denen im Geſicht ge- ſchrieben ſteht, daß an ihrem Herzen der Gram des Heimweh nagt, verheerender noch als die Tuberculoſe an ihrer Lunge. Ich glaube, einige von Euch, Ihr Herren Hausärzte, geben das consilium abeundi etwas zu raſch. Nichts für ungut! —
Eine Ideenverbindung, die keiner Erläuterung bedarf, führt uns von Curorten und Penſionen auf — die Langeweile.
So Mancher, der durch Noth, Ehrgeiz, Pflichtgefühl oder andere ſtarke Triebfedern Jahr aus Jahr ein in an- geſtrengter Thätigkeit gehalten wird, benutzt gern die kurzen Raſten, die ihm bei ſeiner Familie und ſeinen Freunden vergönnt ſind, um über die „Laſt der Arbeit“ zu klagen und ſeine brennende Sehnſucht nach Ruhe auszuſprechen. Erſt wenn ihm einmal dieſe Ruhe für längere Zeit auferlegt iſt, ſei es zwangsweiſe, durch Kränklichkeit, Alter, Verhältniſſe, Perſonen, oder ſei es, daß ihn ſein eigener freier Entſchluß in Ruheſtand verſetzt hat, weil er „nun endlich einmal ſein Leben, die Früchte ſeiner Thätigkeit, genießen möchte“ — erſt dann bemerkt er, welcher Segen auf der Arbeit, der berufs- mäßigen, geregelten, zwingenden Arbeit liegt. Selbſt das ehemalige Uebermaß, welches er ſo oft verwünſchte, tauſchte er gern ein gegen den jetzigen völligen Mangel. Bevorzugte, hochgeborene Naturen gibt es zwar, Dichter und Denker, die
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V. Ernſte Ueberlegungen — Waffen gegen Langeweile.
legen, wenn ihm eine berathende Stimme über die Auswahl
zugeſtanden würde.
Jeder, der im Süden ſein Winterquartier als Curgaſt
nehmen will, hat übrigens vorher alles Ernſtes nicht nur
mit ſeinem Hausarzte, ſondern auch mit ſich ſelber zu
Rathe zu gehen. Unter Umſtänden, z. B. wenn ſeine
Krankheit ſchon ſehr weit vorgeſchritten, oder es ihm gar zu
ſchwer wird, ſich von den Seinigen zu trennen, oder wenn
er überaus weichlich und abhängig von Gewohnheiten iſt,
thut er gewiß oft beſſer, daheim zu bleiben. In vielen
Winterſtationen (der Buchſtabe M. führt deren allein vier
erſten Ranges auf: Meran, Montreux, Mentone, Madeira)
ſieht man nur zu häufig Geſtalten, denen im Geſicht ge-
ſchrieben ſteht, daß an ihrem Herzen der Gram des Heimweh
nagt, verheerender noch als die Tuberculoſe an ihrer Lunge.
Ich glaube, einige von Euch, Ihr Herren Hausärzte, geben
das consilium abeundi etwas zu raſch. Nichts für ungut! —
Eine Ideenverbindung, die keiner Erläuterung bedarf, führt
uns von Curorten und Penſionen auf — die Langeweile.
So Mancher, der durch Noth, Ehrgeiz, Pflichtgefühl
oder andere ſtarke Triebfedern Jahr aus Jahr ein in an-
geſtrengter Thätigkeit gehalten wird, benutzt gern die kurzen
Raſten, die ihm bei ſeiner Familie und ſeinen Freunden
vergönnt ſind, um über die „Laſt der Arbeit“ zu klagen und
ſeine brennende Sehnſucht nach Ruhe auszuſprechen. Erſt
wenn ihm einmal dieſe Ruhe für längere Zeit auferlegt iſt,
ſei es zwangsweiſe, durch Kränklichkeit, Alter, Verhältniſſe,
Perſonen, oder ſei es, daß ihn ſein eigener freier Entſchluß
in Ruheſtand verſetzt hat, weil er „nun endlich einmal ſein
Leben, die Früchte ſeiner Thätigkeit, genießen möchte“ — erſt
dann bemerkt er, welcher Segen auf der Arbeit, der berufs-
mäßigen, geregelten, zwingenden Arbeit liegt. Selbſt das
ehemalige Uebermaß, welches er ſo oft verwünſchte, tauſchte
er gern ein gegen den jetzigen völligen Mangel. Bevorzugte,
hochgeborene Naturen gibt es zwar, Dichter und Denker, die
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/167>, abgerufen am 26.06.2024.
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