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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VIII. Jugend und Alter -- Einseitigkeit.
und die Neuheit und Mannigfaltigkeit der Eindrücke noch
reizt, uns, während wir sie durchleben, kurz, nur im
Rückblick lang erscheint, weil in diesem das geistige Auge
eine lange inhaltsvolle Reihe zu durchwandern hat, im
Durchleben aber immer von einem Gegenstande zu sehr be-
schäftigt ist, um rückwärts zu blicken; daß dagegen umgekehrt
die Zeit in der Gegenwart sich um so mehr dehnt, je weniger
wir uns dem Einzelnen hinzugeben vermögen, deshalb jedoch
in der Rückschau, in der der Blick wenig Fesselndes findet,
kurz erscheinen muß. Im optischen Gebiete gilt dasselbe: ein
Berg, der nur durch eine weite, einfarbige Fläche, z. B.
Wasser, Wiese, Sandwüste, von uns getrennt ist, stellt sich
uns viel näher dar, als er wirklich liegt. Das Alter hat
gewiß häufiger als die Jugend Anlaß zur Langenweile,
empfindet sie indessen minder, theils weil seine Gefühle über-
haupt nicht so lebhaft sind, theils weil es durch lange Uebung
gelernt hat, Unvermeidliches zu tragen.

-- Was verstehen Sie, frug ich, unter einer bestimmten
Richtung? Wollen Sie der Einseitigkeit das Wort
reden?

-- Im Grunde ja, denn alles einigermaßen Rechte und
Tüchtige in unsrer Welt der Unvollkommenheit ist einseitig.
So viele große Männer, jeder in seiner Weise, haben das
ausgesprochen, daß wir es schon auf Treu und Glauben an-
nehmen dürfen. Die Nothwendigkeit der Beschränkung kann
nur von der Beschränktheit verkannt werden. Sogenannte
Vielseitigkeit und Oberflächlichkeit sind untrennbar verbunden,
und was in der Regel Einseitigkeit gescholten wird, ist ent-
weder Keinseitigkeit oder -- eine löbliche Eigenschaft.

-- Ich meinte gerade, der rechte Tourist müsse sein Auge
gewöhnen, auf Alles Acht zu haben, für ihn dürfe es nichts
Gleichgiltiges geben, so wenig wie für den Untersuchungs-
richter, denn aus den scheinbar unbedeutendsten Dingen
können ihm werthvolle Aufschlüsse werden über Land und
Leute, ihre Sitte und Sinnesart, ihr Thun und Treiben.

VIII. Jugend und Alter — Einſeitigkeit.
und die Neuheit und Mannigfaltigkeit der Eindrücke noch
reizt, uns, während wir ſie durchleben, kurz, nur im
Rückblick lang erſcheint, weil in dieſem das geiſtige Auge
eine lange inhaltsvolle Reihe zu durchwandern hat, im
Durchleben aber immer von einem Gegenſtande zu ſehr be-
ſchäftigt iſt, um rückwärts zu blicken; daß dagegen umgekehrt
die Zeit in der Gegenwart ſich um ſo mehr dehnt, je weniger
wir uns dem Einzelnen hinzugeben vermögen, deshalb jedoch
in der Rückſchau, in der der Blick wenig Feſſelndes findet,
kurz erſcheinen muß. Im optiſchen Gebiete gilt daſſelbe: ein
Berg, der nur durch eine weite, einfarbige Fläche, z. B.
Waſſer, Wieſe, Sandwüſte, von uns getrennt iſt, ſtellt ſich
uns viel näher dar, als er wirklich liegt. Das Alter hat
gewiß häufiger als die Jugend Anlaß zur Langenweile,
empfindet ſie indeſſen minder, theils weil ſeine Gefühle über-
haupt nicht ſo lebhaft ſind, theils weil es durch lange Uebung
gelernt hat, Unvermeidliches zu tragen.

— Was verſtehen Sie, frug ich, unter einer beſtimmten
Richtung? Wollen Sie der Einſeitigkeit das Wort
reden?

— Im Grunde ja, denn alles einigermaßen Rechte und
Tüchtige in unſrer Welt der Unvollkommenheit iſt einſeitig.
So viele große Männer, jeder in ſeiner Weiſe, haben das
ausgeſprochen, daß wir es ſchon auf Treu und Glauben an-
nehmen dürfen. Die Nothwendigkeit der Beſchränkung kann
nur von der Beſchränktheit verkannt werden. Sogenannte
Vielſeitigkeit und Oberflächlichkeit ſind untrennbar verbunden,
und was in der Regel Einſeitigkeit geſcholten wird, iſt ent-
weder Keinſeitigkeit oder — eine löbliche Eigenſchaft.

— Ich meinte gerade, der rechte Touriſt müſſe ſein Auge
gewöhnen, auf Alles Acht zu haben, für ihn dürfe es nichts
Gleichgiltiges geben, ſo wenig wie für den Unterſuchungs-
richter, denn aus den ſcheinbar unbedeutendſten Dingen
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Leute, ihre Sitte und Sinnesart, ihr Thun und Treiben.

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[253/0267] VIII. Jugend und Alter — Einſeitigkeit. und die Neuheit und Mannigfaltigkeit der Eindrücke noch reizt, uns, während wir ſie durchleben, kurz, nur im Rückblick lang erſcheint, weil in dieſem das geiſtige Auge eine lange inhaltsvolle Reihe zu durchwandern hat, im Durchleben aber immer von einem Gegenſtande zu ſehr be- ſchäftigt iſt, um rückwärts zu blicken; daß dagegen umgekehrt die Zeit in der Gegenwart ſich um ſo mehr dehnt, je weniger wir uns dem Einzelnen hinzugeben vermögen, deshalb jedoch in der Rückſchau, in der der Blick wenig Feſſelndes findet, kurz erſcheinen muß. Im optiſchen Gebiete gilt daſſelbe: ein Berg, der nur durch eine weite, einfarbige Fläche, z. B. Waſſer, Wieſe, Sandwüſte, von uns getrennt iſt, ſtellt ſich uns viel näher dar, als er wirklich liegt. Das Alter hat gewiß häufiger als die Jugend Anlaß zur Langenweile, empfindet ſie indeſſen minder, theils weil ſeine Gefühle über- haupt nicht ſo lebhaft ſind, theils weil es durch lange Uebung gelernt hat, Unvermeidliches zu tragen. — Was verſtehen Sie, frug ich, unter einer beſtimmten Richtung? Wollen Sie der Einſeitigkeit das Wort reden? — Im Grunde ja, denn alles einigermaßen Rechte und Tüchtige in unſrer Welt der Unvollkommenheit iſt einſeitig. So viele große Männer, jeder in ſeiner Weiſe, haben das ausgeſprochen, daß wir es ſchon auf Treu und Glauben an- nehmen dürfen. Die Nothwendigkeit der Beſchränkung kann nur von der Beſchränktheit verkannt werden. Sogenannte Vielſeitigkeit und Oberflächlichkeit ſind untrennbar verbunden, und was in der Regel Einſeitigkeit geſcholten wird, iſt ent- weder Keinſeitigkeit oder — eine löbliche Eigenſchaft. — Ich meinte gerade, der rechte Touriſt müſſe ſein Auge gewöhnen, auf Alles Acht zu haben, für ihn dürfe es nichts Gleichgiltiges geben, ſo wenig wie für den Unterſuchungs- richter, denn aus den ſcheinbar unbedeutendſten Dingen können ihm werthvolle Aufſchlüſſe werden über Land und Leute, ihre Sitte und Sinnesart, ihr Thun und Treiben.

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/267>, abgerufen am 24.11.2024.