Hier, mein Sohn, sagte Anton, und gab un- serm Siegwart das beschriebene Blatt, hast du meine Lehren. Möcht' ich sie dir mit diesem Kuß einhauchen können, daß sie immer dir im Herzen wohnten, und zu seiner Zeit herrliche Frucht bräch- ten! Jch bin mit Freuden alt geworden, weil ich sie befolgte. Mach mir, und deinem alten Vater Freude! Lebe fromm und christlich.
Weiter konnte er nicht reden, denn er war zu sehr bewegt. Sein Auge sah ein paarmal zum Himmel auf, und erflehte Glück herab für Sieg- wart. Laß uns noch ein paarmal auf und abgehn! sagt er, nach einer langen Pause; der Tag ist so schön, und ich fühle heut das Leben der Natur weit lebendiger, als sonst. Sieh doch dieses herrliche Tul- penbeet, wie die Farben durch einander spielen! Die Natur hat tausend Freude, für den, der sie sucht, und mit reinem Herzen in ihren Tempel eintritt Diese gelbe Tulpe hier, mit den feuerroten Strei- fen, und dem blauen Kelch! Es ist nur eine gemei- ne Blume, die der Kenner wenig schätzt, und ist doch so schön. Pflück mir doch diese Aurikel hier! Jch rieche nichts lieber. -- Was für ein Balsam aus der Blume fließt! Er stärkt alle Nerven. Alles ist zur Lust des Menschen da, alles sucht ihm zu ge-
Hier, mein Sohn, ſagte Anton, und gab un- ſerm Siegwart das beſchriebene Blatt, haſt du meine Lehren. Moͤcht’ ich ſie dir mit dieſem Kuß einhauchen koͤnnen, daß ſie immer dir im Herzen wohnten, und zu ſeiner Zeit herrliche Frucht braͤch- ten! Jch bin mit Freuden alt geworden, weil ich ſie befolgte. Mach mir, und deinem alten Vater Freude! Lebe fromm und chriſtlich.
Weiter konnte er nicht reden, denn er war zu ſehr bewegt. Sein Auge ſah ein paarmal zum Himmel auf, und erflehte Gluͤck herab fuͤr Sieg- wart. Laß uns noch ein paarmal auf und abgehn! ſagt er, nach einer langen Pauſe; der Tag iſt ſo ſchoͤn, und ich fuͤhle heut das Leben der Natur weit lebendiger, als ſonſt. Sieh doch dieſes herrliche Tul- penbeet, wie die Farben durch einander ſpielen! Die Natur hat tauſend Freude, fuͤr den, der ſie ſucht, und mit reinem Herzen in ihren Tempel eintritt Dieſe gelbe Tulpe hier, mit den feuerroten Strei- fen, und dem blauen Kelch! Es iſt nur eine gemei- ne Blume, die der Kenner wenig ſchaͤtzt, und iſt doch ſo ſchoͤn. Pfluͤck mir doch dieſe Aurikel hier! Jch rieche nichts lieber. — Was fuͤr ein Balſam aus der Blume fließt! Er ſtaͤrkt alle Nerven. Alles iſt zur Luſt des Menſchen da, alles ſucht ihm zu ge-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0109"n="105"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Hier, mein Sohn, ſagte <hirendition="#fr">Anton,</hi> und gab un-<lb/>ſerm <hirendition="#fr">Siegwart</hi> das beſchriebene Blatt, haſt du<lb/>
meine Lehren. Moͤcht’ ich ſie dir mit dieſem Kuß<lb/>
einhauchen koͤnnen, daß ſie immer dir im Herzen<lb/>
wohnten, und zu ſeiner Zeit herrliche Frucht braͤch-<lb/>
ten! Jch bin mit Freuden alt geworden, weil ich<lb/>ſie befolgte. Mach mir, und deinem alten Vater<lb/>
Freude! Lebe fromm und chriſtlich.</p><lb/><p>Weiter konnte er nicht reden, denn er war zu<lb/>ſehr bewegt. Sein Auge ſah ein paarmal zum<lb/>
Himmel auf, und erflehte Gluͤck herab fuͤr <hirendition="#fr">Sieg-<lb/>
wart.</hi> Laß uns noch ein paarmal auf und abgehn!<lb/>ſagt er, nach einer langen Pauſe; der Tag iſt ſo<lb/>ſchoͤn, und ich fuͤhle heut das Leben der Natur weit<lb/>
lebendiger, als ſonſt. Sieh doch dieſes herrliche Tul-<lb/>
penbeet, wie die Farben durch einander ſpielen! Die<lb/>
Natur hat tauſend Freude, fuͤr den, der ſie ſucht,<lb/>
und mit reinem Herzen in ihren Tempel eintritt<lb/>
Dieſe gelbe Tulpe hier, mit den feuerroten Strei-<lb/>
fen, und dem blauen Kelch! Es iſt nur eine gemei-<lb/>
ne Blume, die der Kenner wenig ſchaͤtzt, und iſt doch<lb/>ſo ſchoͤn. Pfluͤck mir doch dieſe Aurikel hier! Jch<lb/>
rieche nichts lieber. — Was fuͤr ein Balſam aus<lb/>
der Blume fließt! Er ſtaͤrkt alle Nerven. Alles<lb/>
iſt zur Luſt des Menſchen da, alles ſucht ihm zu ge-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[105/0109]
Hier, mein Sohn, ſagte Anton, und gab un-
ſerm Siegwart das beſchriebene Blatt, haſt du
meine Lehren. Moͤcht’ ich ſie dir mit dieſem Kuß
einhauchen koͤnnen, daß ſie immer dir im Herzen
wohnten, und zu ſeiner Zeit herrliche Frucht braͤch-
ten! Jch bin mit Freuden alt geworden, weil ich
ſie befolgte. Mach mir, und deinem alten Vater
Freude! Lebe fromm und chriſtlich.
Weiter konnte er nicht reden, denn er war zu
ſehr bewegt. Sein Auge ſah ein paarmal zum
Himmel auf, und erflehte Gluͤck herab fuͤr Sieg-
wart. Laß uns noch ein paarmal auf und abgehn!
ſagt er, nach einer langen Pauſe; der Tag iſt ſo
ſchoͤn, und ich fuͤhle heut das Leben der Natur weit
lebendiger, als ſonſt. Sieh doch dieſes herrliche Tul-
penbeet, wie die Farben durch einander ſpielen! Die
Natur hat tauſend Freude, fuͤr den, der ſie ſucht,
und mit reinem Herzen in ihren Tempel eintritt
Dieſe gelbe Tulpe hier, mit den feuerroten Strei-
fen, und dem blauen Kelch! Es iſt nur eine gemei-
ne Blume, die der Kenner wenig ſchaͤtzt, und iſt doch
ſo ſchoͤn. Pfluͤck mir doch dieſe Aurikel hier! Jch
rieche nichts lieber. — Was fuͤr ein Balſam aus
der Blume fließt! Er ſtaͤrkt alle Nerven. Alles
iſt zur Luſt des Menſchen da, alles ſucht ihm zu ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/109>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.