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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Hier, mein Sohn, sagte Anton, und gab un-
serm Siegwart das beschriebene Blatt, hast du
meine Lehren. Möcht' ich sie dir mit diesem Kuß
einhauchen können, daß sie immer dir im Herzen
wohnten, und zu seiner Zeit herrliche Frucht bräch-
ten! Jch bin mit Freuden alt geworden, weil ich
sie befolgte. Mach mir, und deinem alten Vater
Freude! Lebe fromm und christlich.

Weiter konnte er nicht reden, denn er war zu
sehr bewegt. Sein Auge sah ein paarmal zum
Himmel auf, und erflehte Glück herab für Sieg-
wart.
Laß uns noch ein paarmal auf und abgehn!
sagt er, nach einer langen Pause; der Tag ist so
schön, und ich fühle heut das Leben der Natur weit
lebendiger, als sonst. Sieh doch dieses herrliche Tul-
penbeet, wie die Farben durch einander spielen! Die
Natur hat tausend Freude, für den, der sie sucht,
und mit reinem Herzen in ihren Tempel eintritt
Diese gelbe Tulpe hier, mit den feuerroten Strei-
fen, und dem blauen Kelch! Es ist nur eine gemei-
ne Blume, die der Kenner wenig schätzt, und ist doch
so schön. Pflück mir doch diese Aurikel hier! Jch
rieche nichts lieber. -- Was für ein Balsam aus
der Blume fließt! Er stärkt alle Nerven. Alles
ist zur Lust des Menschen da, alles sucht ihm zu ge-



Hier, mein Sohn, ſagte Anton, und gab un-
ſerm Siegwart das beſchriebene Blatt, haſt du
meine Lehren. Moͤcht’ ich ſie dir mit dieſem Kuß
einhauchen koͤnnen, daß ſie immer dir im Herzen
wohnten, und zu ſeiner Zeit herrliche Frucht braͤch-
ten! Jch bin mit Freuden alt geworden, weil ich
ſie befolgte. Mach mir, und deinem alten Vater
Freude! Lebe fromm und chriſtlich.

Weiter konnte er nicht reden, denn er war zu
ſehr bewegt. Sein Auge ſah ein paarmal zum
Himmel auf, und erflehte Gluͤck herab fuͤr Sieg-
wart.
Laß uns noch ein paarmal auf und abgehn!
ſagt er, nach einer langen Pauſe; der Tag iſt ſo
ſchoͤn, und ich fuͤhle heut das Leben der Natur weit
lebendiger, als ſonſt. Sieh doch dieſes herrliche Tul-
penbeet, wie die Farben durch einander ſpielen! Die
Natur hat tauſend Freude, fuͤr den, der ſie ſucht,
und mit reinem Herzen in ihren Tempel eintritt
Dieſe gelbe Tulpe hier, mit den feuerroten Strei-
fen, und dem blauen Kelch! Es iſt nur eine gemei-
ne Blume, die der Kenner wenig ſchaͤtzt, und iſt doch
ſo ſchoͤn. Pfluͤck mir doch dieſe Aurikel hier! Jch
rieche nichts lieber. — Was fuͤr ein Balſam aus
der Blume fließt! Er ſtaͤrkt alle Nerven. Alles
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[105/0109] Hier, mein Sohn, ſagte Anton, und gab un- ſerm Siegwart das beſchriebene Blatt, haſt du meine Lehren. Moͤcht’ ich ſie dir mit dieſem Kuß einhauchen koͤnnen, daß ſie immer dir im Herzen wohnten, und zu ſeiner Zeit herrliche Frucht braͤch- ten! Jch bin mit Freuden alt geworden, weil ich ſie befolgte. Mach mir, und deinem alten Vater Freude! Lebe fromm und chriſtlich. Weiter konnte er nicht reden, denn er war zu ſehr bewegt. Sein Auge ſah ein paarmal zum Himmel auf, und erflehte Gluͤck herab fuͤr Sieg- wart. Laß uns noch ein paarmal auf und abgehn! ſagt er, nach einer langen Pauſe; der Tag iſt ſo ſchoͤn, und ich fuͤhle heut das Leben der Natur weit lebendiger, als ſonſt. Sieh doch dieſes herrliche Tul- penbeet, wie die Farben durch einander ſpielen! Die Natur hat tauſend Freude, fuͤr den, der ſie ſucht, und mit reinem Herzen in ihren Tempel eintritt Dieſe gelbe Tulpe hier, mit den feuerroten Strei- fen, und dem blauen Kelch! Es iſt nur eine gemei- ne Blume, die der Kenner wenig ſchaͤtzt, und iſt doch ſo ſchoͤn. Pfluͤck mir doch dieſe Aurikel hier! Jch rieche nichts lieber. — Was fuͤr ein Balſam aus der Blume fließt! Er ſtaͤrkt alle Nerven. Alles iſt zur Luſt des Menſchen da, alles ſucht ihm zu ge-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/109>, abgerufen am 21.11.2024.