55 Jahre alt. Jhr Gesicht war sehr regelmäßig, und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schön- heit. Jhr blaues Auge war etwas trüb, und ver- rieth Hang zur Melancholie. Einige Züge zeig- ten, daß sie oft geweint, und manchen stillen Kummer getragen haben muste. Jetzt war ihr Gesicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer noch Anlage zur Schwärmerey und Wehmuth. Jhre Reden zeugten von gleich viel Verstand, und Empfindung. Nur die letztere schlug noch zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen gehört, sagte sie zu Siegwart. Seyn Sie mir vielmals willkommen! Zwingen Sie sich vor mir im geringsten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer Fischern stehen, und es freut mich. Kommen Sie, Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch kann mir vorstellen, was Sie fühlen müssen; ob ich gleich in der Liebe nie so glücklich war. Da ichs nicht seyn konnte, möcht ichs doch andre machen können! --
Mariane drückte ihrem Jüngling seine Hand stärker, und sah ihm freundlich ins Gesicht. Hier ist herrlich leben, sagte sie, Gottlob, daß Sie da sind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen schon
55 Jahre alt. Jhr Geſicht war ſehr regelmaͤßig, und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schoͤn- heit. Jhr blaues Auge war etwas truͤb, und ver- rieth Hang zur Melancholie. Einige Zuͤge zeig- ten, daß ſie oft geweint, und manchen ſtillen Kummer getragen haben muſte. Jetzt war ihr Geſicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer noch Anlage zur Schwaͤrmerey und Wehmuth. Jhre Reden zeugten von gleich viel Verſtand, und Empfindung. Nur die letztere ſchlug noch zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen gehoͤrt, ſagte ſie zu Siegwart. Seyn Sie mir vielmals willkommen! Zwingen Sie ſich vor mir im geringſten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer Fiſchern ſtehen, und es freut mich. Kommen Sie, Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch kann mir vorſtellen, was Sie fuͤhlen muͤſſen; ob ich gleich in der Liebe nie ſo gluͤcklich war. Da ichs nicht ſeyn konnte, moͤcht ichs doch andre machen koͤnnen! —
Mariane druͤckte ihrem Juͤngling ſeine Hand ſtaͤrker, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. Hier iſt herrlich leben, ſagte ſie, Gottlob, daß Sie da ſind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen ſchon
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0414"n="834"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
55 Jahre alt. Jhr Geſicht war ſehr regelmaͤßig,<lb/>
und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schoͤn-<lb/>
heit. Jhr blaues Auge war etwas truͤb, und ver-<lb/>
rieth Hang zur Melancholie. Einige Zuͤge zeig-<lb/>
ten, daß ſie oft geweint, und manchen ſtillen<lb/>
Kummer getragen haben muſte. Jetzt war ihr<lb/>
Geſicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer<lb/>
noch Anlage zur Schwaͤrmerey und Wehmuth.<lb/>
Jhre Reden zeugten von gleich viel Verſtand,<lb/>
und Empfindung. Nur die letztere ſchlug noch<lb/>
zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen<lb/>
gehoͤrt, ſagte ſie zu Siegwart. Seyn Sie mir<lb/>
vielmals willkommen! Zwingen Sie ſich vor mir<lb/>
im geringſten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer<lb/>
Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer<lb/>
Fiſchern ſtehen, und es freut mich. Kommen Sie,<lb/>
Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch<lb/>
kann mir vorſtellen, was Sie fuͤhlen muͤſſen; ob<lb/>
ich gleich in der Liebe nie ſo gluͤcklich war. Da ichs<lb/>
nicht ſeyn konnte, moͤcht ichs doch andre machen<lb/>
koͤnnen! —</p><lb/><p>Mariane druͤckte ihrem Juͤngling ſeine Hand<lb/>ſtaͤrker, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. Hier<lb/>
iſt herrlich leben, ſagte ſie, Gottlob, daß Sie da<lb/>ſind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen ſchon<lb/></p></div></body></text></TEI>
[834/0414]
55 Jahre alt. Jhr Geſicht war ſehr regelmaͤßig,
und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schoͤn-
heit. Jhr blaues Auge war etwas truͤb, und ver-
rieth Hang zur Melancholie. Einige Zuͤge zeig-
ten, daß ſie oft geweint, und manchen ſtillen
Kummer getragen haben muſte. Jetzt war ihr
Geſicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer
noch Anlage zur Schwaͤrmerey und Wehmuth.
Jhre Reden zeugten von gleich viel Verſtand,
und Empfindung. Nur die letztere ſchlug noch
zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen
gehoͤrt, ſagte ſie zu Siegwart. Seyn Sie mir
vielmals willkommen! Zwingen Sie ſich vor mir
im geringſten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer
Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer
Fiſchern ſtehen, und es freut mich. Kommen Sie,
Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch
kann mir vorſtellen, was Sie fuͤhlen muͤſſen; ob
ich gleich in der Liebe nie ſo gluͤcklich war. Da ichs
nicht ſeyn konnte, moͤcht ichs doch andre machen
koͤnnen! —
Mariane druͤckte ihrem Juͤngling ſeine Hand
ſtaͤrker, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. Hier
iſt herrlich leben, ſagte ſie, Gottlob, daß Sie da
ſind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen ſchon
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 834. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/414>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.