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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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welcher Mensch kann den Unglücklichen retten, der
alles, ach, alles verlohren hat? Ach Geliebter, meine
Mariane ist verlohren. Dieses sag dir alles! Sie
ist eingeschlossen in ein Kloster, und ich weis den
Ort nicht, wo sie jammert. Selbst ihr Vater
war der Grausame, der sie verstieß. Menschen,
Menschen! Welch ein Scheusal seyd ihr! Aber ich
vergeh in meinem Jammer. O Geliebter, wenn
ich wüßte, wo der Tod wär, daß ich ihm entge-
gen gienge! -- Komm Geliebter, und erbarm dich
meiner! Oder ich will selber kommen, und mein
Leid bey dir verjammern. Gönn in deinem Hause
mir ein Plätzchen, und ein Grab auf deinem Acker!
Denn in wenig Tagen wird das Grab mich ru-
fen, und mir Ruhe geben in der Erde, weil ich
auf der Erde sie nicht finden konnte. Sage meiner
Schwester nichts von meinen Leiden, daß sich ihre
Seele nicht zu sehr betrübe! -- Mariane, Ma-
riane! ach wo bist du, du Erwählte meines Her-
zens, daß ich mit dir sterbe? -- Ach Geliebter,
wenn du etwas von ihr hörtest! Wenn ein Engel
dir die Bothschaft brächte, wo sie jammert! -- Jch
muß fliehen, denn ihr Vater will auch mich ver-
folgen. Darum eil ich zu dir. Nimm mich auf
an deinen Busen! Nimm mich freundlich auf! Es



welcher Menſch kann den Ungluͤcklichen retten, der
alles, ach, alles verlohren hat? Ach Geliebter, meine
Mariane iſt verlohren. Dieſes ſag dir alles! Sie
iſt eingeſchloſſen in ein Kloſter, und ich weis den
Ort nicht, wo ſie jammert. Selbſt ihr Vater
war der Grauſame, der ſie verſtieß. Menſchen,
Menſchen! Welch ein Scheuſal ſeyd ihr! Aber ich
vergeh in meinem Jammer. O Geliebter, wenn
ich wuͤßte, wo der Tod waͤr, daß ich ihm entge-
gen gienge! — Komm Geliebter, und erbarm dich
meiner! Oder ich will ſelber kommen, und mein
Leid bey dir verjammern. Goͤnn in deinem Hauſe
mir ein Plaͤtzchen, und ein Grab auf deinem Acker!
Denn in wenig Tagen wird das Grab mich ru-
fen, und mir Ruhe geben in der Erde, weil ich
auf der Erde ſie nicht finden konnte. Sage meiner
Schweſter nichts von meinen Leiden, daß ſich ihre
Seele nicht zu ſehr betruͤbe! — Mariane, Ma-
riane! ach wo biſt du, du Erwaͤhlte meines Her-
zens, daß ich mit dir ſterbe? — Ach Geliebter,
wenn du etwas von ihr hoͤrteſt! Wenn ein Engel
dir die Bothſchaft braͤchte, wo ſie jammert! — Jch
muß fliehen, denn ihr Vater will auch mich ver-
folgen. Darum eil ich zu dir. Nimm mich auf
an deinen Buſen! Nimm mich freundlich auf! Es

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[922/0502] welcher Menſch kann den Ungluͤcklichen retten, der alles, ach, alles verlohren hat? Ach Geliebter, meine Mariane iſt verlohren. Dieſes ſag dir alles! Sie iſt eingeſchloſſen in ein Kloſter, und ich weis den Ort nicht, wo ſie jammert. Selbſt ihr Vater war der Grauſame, der ſie verſtieß. Menſchen, Menſchen! Welch ein Scheuſal ſeyd ihr! Aber ich vergeh in meinem Jammer. O Geliebter, wenn ich wuͤßte, wo der Tod waͤr, daß ich ihm entge- gen gienge! — Komm Geliebter, und erbarm dich meiner! Oder ich will ſelber kommen, und mein Leid bey dir verjammern. Goͤnn in deinem Hauſe mir ein Plaͤtzchen, und ein Grab auf deinem Acker! Denn in wenig Tagen wird das Grab mich ru- fen, und mir Ruhe geben in der Erde, weil ich auf der Erde ſie nicht finden konnte. Sage meiner Schweſter nichts von meinen Leiden, daß ſich ihre Seele nicht zu ſehr betruͤbe! — Mariane, Ma- riane! ach wo biſt du, du Erwaͤhlte meines Her- zens, daß ich mit dir ſterbe? — Ach Geliebter, wenn du etwas von ihr hoͤrteſt! Wenn ein Engel dir die Bothſchaft braͤchte, wo ſie jammert! — Jch muß fliehen, denn ihr Vater will auch mich ver- folgen. Darum eil ich zu dir. Nimm mich auf an deinen Buſen! Nimm mich freundlich auf! Es

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 922. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/502>, abgerufen am 24.11.2024.