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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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versetzte Siegwart. Bedauren und beweinen kann
ich dich. Mehr nicht, unglücklicher Mann! Du
bist ein Mensch gewesen, mehr nicht. Gott weiß,
was ich, an deinem Platz, würde gethan haben?

Der Einsiedler umarmte ihn. Hör! ich schwör
es dir! Du bist noch ein Mensch! Du weist noch,
was ein Mensch kann, und nicht kann. Richtet
nicht, | so werdet ihr auch nicht gerichtet werden!
Das hat Gott gesagt, und du befolgst es. Laß
dich fester an mein Herz drücken! Du bist mir
ein Engel Gottes!

Nach vielen Thränen und Umarmungen setzte
der Einsiedler seine Erzählung also fort:

Meine Mutter war erschlagen. Jch wust es
kaum, daß ichs gethan hatte, und erfuhr es erst
nach ein paar Tagen von meinem Bedienten, der
mich im Wald aussuchte, wohin ich mich geflüchtet
hatte. Jch wollte verzweifeln. Es war, als ob
mir Gottes Rache nachsetzte. Mein Bedienter lag
mir an, aus dem Land zu gehn; ich wollte nicht.
Hätt er mich nicht zurückgehalten, so hätt ich mich
bey der Obrigkeit als einen Muttermörder angege-
ben. Zweymal wollt ich mich in die Donau stür-
zen. Einmal war ich schon bey Nacht darinn. Er
warf sich mit seinem Pferd ins Wasser, und rettete



verſetzte Siegwart. Bedauren und beweinen kann
ich dich. Mehr nicht, ungluͤcklicher Mann! Du
biſt ein Menſch geweſen, mehr nicht. Gott weiß,
was ich, an deinem Platz, wuͤrde gethan haben?

Der Einſiedler umarmte ihn. Hoͤr! ich ſchwoͤr
es dir! Du biſt noch ein Menſch! Du weiſt noch,
was ein Menſch kann, und nicht kann. Richtet
nicht, | ſo werdet ihr auch nicht gerichtet werden!
Das hat Gott geſagt, und du befolgſt es. Laß
dich feſter an mein Herz druͤcken! Du biſt mir
ein Engel Gottes!

Nach vielen Thraͤnen und Umarmungen ſetzte
der Einſiedler ſeine Erzaͤhlung alſo fort:

Meine Mutter war erſchlagen. Jch wuſt es
kaum, daß ichs gethan hatte, und erfuhr es erſt
nach ein paar Tagen von meinem Bedienten, der
mich im Wald auſſuchte, wohin ich mich gefluͤchtet
hatte. Jch wollte verzweifeln. Es war, als ob
mir Gottes Rache nachſetzte. Mein Bedienter lag
mir an, aus dem Land zu gehn; ich wollte nicht.
Haͤtt er mich nicht zuruͤckgehalten, ſo haͤtt ich mich
bey der Obrigkeit als einen Muttermoͤrder angege-
ben. Zweymal wollt ich mich in die Donau ſtuͤr-
zen. Einmal war ich ſchon bey Nacht darinn. Er
warf ſich mit ſeinem Pferd ins Waſſer, und rettete

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[951/0531] verſetzte Siegwart. Bedauren und beweinen kann ich dich. Mehr nicht, ungluͤcklicher Mann! Du biſt ein Menſch geweſen, mehr nicht. Gott weiß, was ich, an deinem Platz, wuͤrde gethan haben? Der Einſiedler umarmte ihn. Hoͤr! ich ſchwoͤr es dir! Du biſt noch ein Menſch! Du weiſt noch, was ein Menſch kann, und nicht kann. Richtet nicht, | ſo werdet ihr auch nicht gerichtet werden! Das hat Gott geſagt, und du befolgſt es. Laß dich feſter an mein Herz druͤcken! Du biſt mir ein Engel Gottes! Nach vielen Thraͤnen und Umarmungen ſetzte der Einſiedler ſeine Erzaͤhlung alſo fort: Meine Mutter war erſchlagen. Jch wuſt es kaum, daß ichs gethan hatte, und erfuhr es erſt nach ein paar Tagen von meinem Bedienten, der mich im Wald auſſuchte, wohin ich mich gefluͤchtet hatte. Jch wollte verzweifeln. Es war, als ob mir Gottes Rache nachſetzte. Mein Bedienter lag mir an, aus dem Land zu gehn; ich wollte nicht. Haͤtt er mich nicht zuruͤckgehalten, ſo haͤtt ich mich bey der Obrigkeit als einen Muttermoͤrder angege- ben. Zweymal wollt ich mich in die Donau ſtuͤr- zen. Einmal war ich ſchon bey Nacht darinn. Er warf ſich mit ſeinem Pferd ins Waſſer, und rettete

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 951. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/531>, abgerufen am 27.11.2024.