blick an bemerkt, und sogleich die Ursache davon er- rathen. Denn die Liebe macht scharfsichtig; und Liebende erkennen sich, so wie edle Seelen, meh- rentheils beym ersten Anblick. Sie fühlte tiefes, inniges Mitleid mit ihm; dieses lehrt die Liebe.
Kronhelm muß recht unglücklich seyn, fieng der junge Grünbach einmal an; seine Briefe sind so düster. Jch möchte wohl wissen, was ihm fehlt? -- Siegwart war ausserordentlich gewissenhaft in der Freundschaft. Er glaubte seinen Freund zu beleidigen, wenn er eine Sache, um die er gefragt würde, verschwiege, oder sie nicht zu wissen, vorgä- be. Dieß machte ihn, sobald er mit einem Freund allein war, sehr offenherzig; wozu noch seine edle Denkungsart kam, die ihn von den meisten gut den- ken, und fast jeden nach sich beurtheilen lehrte. Er war also auch dießmal auf Grünbachs Frage ziem- lich offenherzig, und sagte: Jch fürchte, daß der ar- me Kronhelm unglücklich liebt; er ließ mich eini- gemal etwas davon merken. -- Dann bedaur ich ihn von Herzen, sagte Sophie, und suchte bey die- sen Worten einen Seufzer zu unterdrücken. -- Weichherziges Geschöpf! sagte Grünbach.
Siegwart. Wie, Bruder? -- Das ist doch kein Tadel?
blick an bemerkt, und ſogleich die Urſache davon er- rathen. Denn die Liebe macht ſcharfſichtig; und Liebende erkennen ſich, ſo wie edle Seelen, meh- rentheils beym erſten Anblick. Sie fuͤhlte tiefes, inniges Mitleid mit ihm; dieſes lehrt die Liebe.
Kronhelm muß recht ungluͤcklich ſeyn, fieng der junge Gruͤnbach einmal an; ſeine Briefe ſind ſo duͤſter. Jch moͤchte wohl wiſſen, was ihm fehlt? — Siegwart war auſſerordentlich gewiſſenhaft in der Freundſchaft. Er glaubte ſeinen Freund zu beleidigen, wenn er eine Sache, um die er gefragt wuͤrde, verſchwiege, oder ſie nicht zu wiſſen, vorgaͤ- be. Dieß machte ihn, ſobald er mit einem Freund allein war, ſehr offenherzig; wozu noch ſeine edle Denkungsart kam, die ihn von den meiſten gut den- ken, und faſt jeden nach ſich beurtheilen lehrte. Er war alſo auch dießmal auf Gruͤnbachs Frage ziem- lich offenherzig, und ſagte: Jch fuͤrchte, daß der ar- me Kronhelm ungluͤcklich liebt; er ließ mich eini- gemal etwas davon merken. — Dann bedaur ich ihn von Herzen, ſagte Sophie, und ſuchte bey die- ſen Worten einen Seufzer zu unterdruͤcken. — Weichherziges Geſchoͤpf! ſagte Gruͤnbach.
Siegwart. Wie, Bruder? — Das iſt doch kein Tadel?
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blick an bemerkt, und ſogleich die Urſache davon er-
rathen. Denn die Liebe macht ſcharfſichtig; und
Liebende erkennen ſich, ſo wie edle Seelen, meh-
rentheils beym erſten Anblick. Sie fuͤhlte tiefes,
inniges Mitleid mit ihm; dieſes lehrt die Liebe.
Kronhelm muß recht ungluͤcklich ſeyn, fieng der
junge Gruͤnbach einmal an; ſeine Briefe ſind ſo
duͤſter. Jch moͤchte wohl wiſſen, was ihm fehlt?
— Siegwart war auſſerordentlich gewiſſenhaft in
der Freundſchaft. Er glaubte ſeinen Freund zu
beleidigen, wenn er eine Sache, um die er gefragt
wuͤrde, verſchwiege, oder ſie nicht zu wiſſen, vorgaͤ-
be. Dieß machte ihn, ſobald er mit einem Freund
allein war, ſehr offenherzig; wozu noch ſeine edle
Denkungsart kam, die ihn von den meiſten gut den-
ken, und faſt jeden nach ſich beurtheilen lehrte. Er
war alſo auch dießmal auf Gruͤnbachs Frage ziem-
lich offenherzig, und ſagte: Jch fuͤrchte, daß der ar-
me Kronhelm ungluͤcklich liebt; er ließ mich eini-
gemal etwas davon merken. — Dann bedaur ich
ihn von Herzen, ſagte Sophie, und ſuchte bey die-
ſen Worten einen Seufzer zu unterdruͤcken. —
Weichherziges Geſchoͤpf! ſagte Gruͤnbach.
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/71>, abgerufen am 24.11.2024.
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