Grünbach. Tadel nicht. Aber es steht doch auch nicht fein, gleich so weinerlich zu thun. -- Freylich, Mädchen muß man das verzeihen. --
Siegwart. Ja, wenn Mitleid Fehler ist. Aber ich halts für einen Vorzug des weiblichen Ge- schlechts. Wir thun oft so hart und rauh; und doch würden wirs einem Freund übel auslegen, der nicht Antheil dran nähme, wenn uns ein Unglück, oder eine Krankheit zustößt.
Sophie. Jch will mich meines Mitleids eben nicht rühmen, denn man ist immer etwas eigen- nützig dabey, weil man selbst Vergnügen darüber fühlt, und sich beym Mitleid wohlgefällt; aber ich halte dieses Gefühl für eine Wohlthat Gottes; und einen unglücklich Liebenden zu bedauren, halt ich für die erste Pflicht, weil sein Leiden wirklich groß seyn muß.
Siegwart. Ja, gewiß groß, Jungfer Sophie! Jch habs bey meinem Freund erfahren. -- Ach, wenn er so des Abends bey mir saß im Mondschein, oder in der Dämmerung; mir meine Hand drück- te, und dann schwer aufseufzte, da fühlt ichs ganz, welche Qual in ihm toben mußte.
Gruͤnbach. Tadel nicht. Aber es ſteht doch auch nicht fein, gleich ſo weinerlich zu thun. — Freylich, Maͤdchen muß man das verzeihen. —
Siegwart. Ja, wenn Mitleid Fehler iſt. Aber ich halts fuͤr einen Vorzug des weiblichen Ge- ſchlechts. Wir thun oft ſo hart und rauh; und doch wuͤrden wirs einem Freund uͤbel auslegen, der nicht Antheil dran naͤhme, wenn uns ein Ungluͤck, oder eine Krankheit zuſtoͤßt.
Sophie. Jch will mich meines Mitleids eben nicht ruͤhmen, denn man iſt immer etwas eigen- nuͤtzig dabey, weil man ſelbſt Vergnuͤgen daruͤber fuͤhlt, und ſich beym Mitleid wohlgefaͤllt; aber ich halte dieſes Gefuͤhl fuͤr eine Wohlthat Gottes; und einen ungluͤcklich Liebenden zu bedauren, halt ich fuͤr die erſte Pflicht, weil ſein Leiden wirklich groß ſeyn muß.
Siegwart. Ja, gewiß groß, Jungfer Sophie! Jch habs bey meinem Freund erfahren. — Ach, wenn er ſo des Abends bey mir ſaß im Mondſchein, oder in der Daͤmmerung; mir meine Hand druͤck- te, und dann ſchwer aufſeufzte, da fuͤhlt ichs ganz, welche Qual in ihm toben mußte.
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Gruͤnbach. Tadel nicht. Aber es ſteht doch
auch nicht fein, gleich ſo weinerlich zu thun. —
Freylich, Maͤdchen muß man das verzeihen. —
Siegwart. Ja, wenn Mitleid Fehler iſt.
Aber ich halts fuͤr einen Vorzug des weiblichen Ge-
ſchlechts. Wir thun oft ſo hart und rauh; und
doch wuͤrden wirs einem Freund uͤbel auslegen, der
nicht Antheil dran naͤhme, wenn uns ein Ungluͤck,
oder eine Krankheit zuſtoͤßt.
Sophie. Jch will mich meines Mitleids eben
nicht ruͤhmen, denn man iſt immer etwas eigen-
nuͤtzig dabey, weil man ſelbſt Vergnuͤgen daruͤber
fuͤhlt, und ſich beym Mitleid wohlgefaͤllt; aber ich
halte dieſes Gefuͤhl fuͤr eine Wohlthat Gottes; und
einen ungluͤcklich Liebenden zu bedauren, halt ich
fuͤr die erſte Pflicht, weil ſein Leiden wirklich groß
ſeyn muß.
Siegwart. Ja, gewiß groß, Jungfer Sophie!
Jch habs bey meinem Freund erfahren. — Ach,
wenn er ſo des Abends bey mir ſaß im Mondſchein,
oder in der Daͤmmerung; mir meine Hand druͤck-
te, und dann ſchwer aufſeufzte, da fuͤhlt ichs ganz,
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/72>, abgerufen am 24.11.2024.
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