Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760.

Bild:
<< vorherige Seite

Das verlohrne Paradies.
15Zu verweilen gezwungen. Auf meinem verwegenen Fluge,
Welcher mich durch die äußerst' und mittlere Finsterniß [Spaltenumbruch] c) forttrug,
Sang ich mit andern Tönen, als Orpheus Leyer gesungen d),
Von der ewigen Nacht, und dem Chaos. Die himmlische Muse
Unterrichtete mich, die dunkle Hinabfahrt zu wagen,
20Und mich wieder herauf zu schwingen; so schwer, und so selten
Dieses Unternehmen auch ist. Gerettet, besuch ich
Jtzo dich wieder; und fühl ich die herrschende Lebenslampe:
Aber du besuchst mich nicht wieder; nicht wieder die Augen,
Die vergeblich sich rollen, um deine durchdringenden Stralen
25Wiederzufinden; sie finden sie nicht! und keine Dämmrung
Bricht zu ihnen hindurch; so hat ein verfinsternder Tropfen,
Oder ein trübes Gewölke, die helle Scheibe verhüllet.
Dennoch hör ich nicht auf, an lieblichen Oertern zu wandeln,
Welche die Musen bewohnen; an klaren rieselnden Quellen,
30Oder im schattichten Hain, und auf dem sonnichten Hügel,
Von der Lieb entzündet zum heilgen Gesange. Besonders
Komm ich, o Sion, zu dir in stillen nächtlichen Stunden,
Zu den blumichten Bächen, die deine geweihten Wurzeln
Waschen, und murmelnd über sie fließen. Jndem ich nicht selten

An
c) Durch die Hölle, welche oft die
äußerste Finsterniß genannt wird,
und durch den großen Abgrund zwi-
schen der Hölle und dem Himmel, die
mittlere Finsterniß. N.
d) Orpheus machte einen Lobge-
sang an die Nacht, den wir noch von
ihm haben; er schrieb auch von der
[Spaltenumbruch] Schöpfung aus dem Chaos. Siehe
den Apoll. Rhodius I. 493. Orpheus
ward nur durch seine Mutter Kallio-
pe begeistert; Milton durch die himm-
lische Muse;
deshalb sagt er, daß er
mit andern Tönen als Orpheus gesun-
gen, obgleich die Gegenstände einerley
waren. Richardson.

Das verlohrne Paradies.
15Zu verweilen gezwungen. Auf meinem verwegenen Fluge,
Welcher mich durch die aͤußerſt’ und mittlere Finſterniß [Spaltenumbruch] c) forttrug,
Sang ich mit andern Toͤnen, als Orpheus Leyer geſungen d),
Von der ewigen Nacht, und dem Chaos. Die himmliſche Muſe
Unterrichtete mich, die dunkle Hinabfahrt zu wagen,
20Und mich wieder herauf zu ſchwingen; ſo ſchwer, und ſo ſelten
Dieſes Unternehmen auch iſt. Gerettet, beſuch ich
Jtzo dich wieder; und fuͤhl ich die herrſchende Lebenslampe:
Aber du beſuchſt mich nicht wieder; nicht wieder die Augen,
Die vergeblich ſich rollen, um deine durchdringenden Stralen
25Wiederzufinden; ſie finden ſie nicht! und keine Daͤmmrung
Bricht zu ihnen hindurch; ſo hat ein verfinſternder Tropfen,
Oder ein truͤbes Gewoͤlke, die helle Scheibe verhuͤllet.
Dennoch hoͤr ich nicht auf, an lieblichen Oertern zu wandeln,
Welche die Muſen bewohnen; an klaren rieſelnden Quellen,
30Oder im ſchattichten Hain, und auf dem ſonnichten Huͤgel,
Von der Lieb entzuͤndet zum heilgen Geſange. Beſonders
Komm ich, o Sion, zu dir in ſtillen naͤchtlichen Stunden,
Zu den blumichten Baͤchen, die deine geweihten Wurzeln
Waſchen, und murmelnd uͤber ſie fließen. Jndem ich nicht ſelten

An
c) Durch die Hoͤlle, welche oft die
äußerſte Finſterniß genannt wird,
und durch den großen Abgrund zwi-
ſchen der Hoͤlle und dem Himmel, die
mittlere Finſterniß. N.
d) Orpheus machte einen Lobge-
ſang an die Nacht, den wir noch von
ihm haben; er ſchrieb auch von der
[Spaltenumbruch] Schoͤpfung aus dem Chaos. Siehe
den Apoll. Rhodius I. 493. Orpheus
ward nur durch ſeine Mutter Kallio-
pe begeiſtert; Milton durch die himm-
liſche Muſe;
deshalb ſagt er, daß er
mit andern Toͤnen als Orpheus geſun-
gen, obgleich die Gegenſtaͤnde einerley
waren. Richardſon.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="1">
            <pb facs="#f0118" n="100"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das verlohrne Paradies.</hi> </fw><lb/>
            <l><note place="left">15</note>Zu verweilen gezwungen. Auf meinem verwegenen Fluge,</l><lb/>
            <l>Welcher mich durch die a&#x0364;ußer&#x017F;t&#x2019; und mittlere Fin&#x017F;terniß <cb/>
<note place="foot" n="c)">Durch die Ho&#x0364;lle, welche oft die<lb/><hi rendition="#fr">äußer&#x017F;te Fin&#x017F;terniß</hi> genannt wird,<lb/>
und durch den großen Abgrund zwi-<lb/>
&#x017F;chen der Ho&#x0364;lle und dem Himmel, die<lb/><hi rendition="#fr">mittlere Fin&#x017F;terniß.</hi> N.</note> forttrug,</l><lb/>
            <l>Sang ich mit andern To&#x0364;nen, als <hi rendition="#fr">Orpheus</hi> Leyer ge&#x017F;ungen <note place="foot" n="d)">Orpheus machte einen Lobge-<lb/>
&#x017F;ang an die Nacht, den wir noch von<lb/>
ihm haben; er &#x017F;chrieb auch von der<lb/><cb/>
Scho&#x0364;pfung aus dem Chaos. Siehe<lb/>
den Apoll. Rhodius <hi rendition="#aq">I.</hi> 493. Orpheus<lb/>
ward nur durch &#x017F;eine Mutter Kallio-<lb/>
pe begei&#x017F;tert; Milton durch die <hi rendition="#fr">himm-<lb/>
li&#x017F;che Mu&#x017F;e;</hi> deshalb &#x017F;agt er, daß er<lb/>
mit andern To&#x0364;nen als Orpheus ge&#x017F;un-<lb/>
gen, obgleich die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde einerley<lb/>
waren. <hi rendition="#fr">Richard&#x017F;on.</hi></note>,</l><lb/>
            <l>Von der ewigen Nacht, und dem <hi rendition="#fr">Chaos.</hi> Die himmli&#x017F;che Mu&#x017F;e</l><lb/>
            <l>Unterrichtete mich, die dunkle Hinabfahrt zu wagen,</l><lb/>
            <l><note place="left">20</note>Und mich wieder herauf zu &#x017F;chwingen; &#x017F;o &#x017F;chwer, und &#x017F;o &#x017F;elten</l><lb/>
            <l>Die&#x017F;es Unternehmen auch i&#x017F;t. Gerettet, be&#x017F;uch ich</l><lb/>
            <l>Jtzo dich wieder; und fu&#x0364;hl ich die herr&#x017F;chende Lebenslampe:</l><lb/>
            <l>Aber du be&#x017F;uch&#x017F;t mich nicht wieder; nicht wieder die Augen,</l><lb/>
            <l>Die vergeblich &#x017F;ich rollen, um deine durchdringenden Stralen</l><lb/>
            <l><note place="left">25</note>Wiederzufinden; &#x017F;ie finden &#x017F;ie nicht! und keine Da&#x0364;mmrung</l><lb/>
            <l>Bricht zu ihnen hindurch; &#x017F;o hat ein verfin&#x017F;ternder Tropfen,</l><lb/>
            <l>Oder ein tru&#x0364;bes Gewo&#x0364;lke, die helle Scheibe verhu&#x0364;llet.</l><lb/>
            <l>Dennoch ho&#x0364;r ich nicht auf, an lieblichen Oertern zu wandeln,</l><lb/>
            <l>Welche die Mu&#x017F;en bewohnen; an klaren rie&#x017F;elnden Quellen,</l><lb/>
            <l><note place="left">30</note>Oder im &#x017F;chattichten Hain, und auf dem &#x017F;onnichten Hu&#x0364;gel,</l><lb/>
            <l>Von der Lieb entzu&#x0364;ndet zum heilgen Ge&#x017F;ange. Be&#x017F;onders</l><lb/>
            <l>Komm ich, o <hi rendition="#fr">Sion,</hi> zu dir in &#x017F;tillen na&#x0364;chtlichen Stunden,</l><lb/>
            <l>Zu den blumichten Ba&#x0364;chen, die deine geweihten Wurzeln</l><lb/>
            <l>Wa&#x017F;chen, und murmelnd u&#x0364;ber &#x017F;ie fließen. Jndem ich nicht &#x017F;elten</l><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">An</fw><lb/>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0118] Das verlohrne Paradies. Zu verweilen gezwungen. Auf meinem verwegenen Fluge, Welcher mich durch die aͤußerſt’ und mittlere Finſterniß c) forttrug, Sang ich mit andern Toͤnen, als Orpheus Leyer geſungen d), Von der ewigen Nacht, und dem Chaos. Die himmliſche Muſe Unterrichtete mich, die dunkle Hinabfahrt zu wagen, Und mich wieder herauf zu ſchwingen; ſo ſchwer, und ſo ſelten Dieſes Unternehmen auch iſt. Gerettet, beſuch ich Jtzo dich wieder; und fuͤhl ich die herrſchende Lebenslampe: Aber du beſuchſt mich nicht wieder; nicht wieder die Augen, Die vergeblich ſich rollen, um deine durchdringenden Stralen Wiederzufinden; ſie finden ſie nicht! und keine Daͤmmrung Bricht zu ihnen hindurch; ſo hat ein verfinſternder Tropfen, Oder ein truͤbes Gewoͤlke, die helle Scheibe verhuͤllet. Dennoch hoͤr ich nicht auf, an lieblichen Oertern zu wandeln, Welche die Muſen bewohnen; an klaren rieſelnden Quellen, Oder im ſchattichten Hain, und auf dem ſonnichten Huͤgel, Von der Lieb entzuͤndet zum heilgen Geſange. Beſonders Komm ich, o Sion, zu dir in ſtillen naͤchtlichen Stunden, Zu den blumichten Baͤchen, die deine geweihten Wurzeln Waſchen, und murmelnd uͤber ſie fließen. Jndem ich nicht ſelten An c) Durch die Hoͤlle, welche oft die äußerſte Finſterniß genannt wird, und durch den großen Abgrund zwi- ſchen der Hoͤlle und dem Himmel, die mittlere Finſterniß. N. d) Orpheus machte einen Lobge- ſang an die Nacht, den wir noch von ihm haben; er ſchrieb auch von der Schoͤpfung aus dem Chaos. Siehe den Apoll. Rhodius I. 493. Orpheus ward nur durch ſeine Mutter Kallio- pe begeiſtert; Milton durch die himm- liſche Muſe; deshalb ſagt er, daß er mit andern Toͤnen als Orpheus geſun- gen, obgleich die Gegenſtaͤnde einerley waren. Richardſon.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/118
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/118>, abgerufen am 03.05.2024.