Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760.

Bild:
<< vorherige Seite

Das verlohrne Paradies.
Unter deine gewölbten Schatten; die Stunden des Mittags
Hab ich für mich, bis der Abend heraufsteigt. -- So kamen sie beyde
375Zu der waldichten Wohnung, die gleich der Laube Pomonens
Duftend sie anlacht, mit Blumen geziert, und erfrischenden Blüthen.
Aber Eva stand nackend, nur mit sich selber geschmücket,
Und doch reizender noch als eine Waldnymph, und schöner,
Als der drey Fabelgöttinnen schönste, die vormals auf Jda
380Nackend sich um den Preis der Schönheit gestritten. So stand sie
Jhren himmlischen Gast zu bedienen; und keines Schleyers
Hatte sie nöthig zum Schirme der Keuschheit; kein schwacher Gedanke
Durfte die Wangen entfärben. Mit Heil! empfieng sie der Engel,
Und er gab ihr den heiligen Gruß, den er lange nachhero
385Gegen die hohe Maria, die zweyte Eva [Spaltenumbruch] t), gebrauchet.

Heil dir! Mutter des Menschengeschlechtes! die fruchtbare Schooß wird
Mit mehr Söhnen die Welt erfüllen, als mancherley Früchte
Von den Bäumen Gottes auf diese Tafel gehäuft sind.
Jhre Tafel erhub sich von Rosen, und hatte rund um sich
390Sitze von weichen Moos. Auf ihrer geraumen Fläche
Trug sie von Seite zu Seite den ganzen Herbst aufgethürmet,
Obgleich Hand in Hand der Herbst und der Frühling hier tanzten.
Eine Weil' unterhielten sie sich mit holden Gesprächen,
Ohne zu fürchten, daß ihre Speisen erkalten möchten.
Und
t) Siehe Luk. I. 28. Sie wird die
zweyte Eva genannt, wie Christus
[Spaltenumbruch] manchmal der zweyte Adam genannt
wird. N.

Das verlohrne Paradies.
Unter deine gewoͤlbten Schatten; die Stunden des Mittags
Hab ich fuͤr mich, bis der Abend heraufſteigt. — So kamen ſie beyde
375Zu der waldichten Wohnung, die gleich der Laube Pomonens
Duftend ſie anlacht, mit Blumen geziert, und erfriſchenden Bluͤthen.
Aber Eva ſtand nackend, nur mit ſich ſelber geſchmuͤcket,
Und doch reizender noch als eine Waldnymph, und ſchoͤner,
Als der drey Fabelgoͤttinnen ſchoͤnſte, die vormals auf Jda
380Nackend ſich um den Preis der Schoͤnheit geſtritten. So ſtand ſie
Jhren himmliſchen Gaſt zu bedienen; und keines Schleyers
Hatte ſie noͤthig zum Schirme der Keuſchheit; kein ſchwacher Gedanke
Durfte die Wangen entfaͤrben. Mit Heil! empfieng ſie der Engel,
Und er gab ihr den heiligen Gruß, den er lange nachhero
385Gegen die hohe Maria, die zweyte Eva [Spaltenumbruch] t), gebrauchet.

Heil dir! Mutter des Menſchengeſchlechtes! die fruchtbare Schooß wird
Mit mehr Soͤhnen die Welt erfuͤllen, als mancherley Fruͤchte
Von den Baͤumen Gottes auf dieſe Tafel gehaͤuft ſind.
Jhre Tafel erhub ſich von Roſen, und hatte rund um ſich
390Sitze von weichen Moos. Auf ihrer geraumen Flaͤche
Trug ſie von Seite zu Seite den ganzen Herbſt aufgethuͤrmet,
Obgleich Hand in Hand der Herbſt und der Fruͤhling hier tanzten.
Eine Weil’ unterhielten ſie ſich mit holden Geſpraͤchen,
Ohne zu fuͤrchten, daß ihre Speiſen erkalten moͤchten.
Und
t) Siehe Luk. I. 28. Sie wird die
zweyte Eva genannt, wie Chriſtus
[Spaltenumbruch] manchmal der zweyte Adam genannt
wird. N.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="27">
            <pb facs="#f0224" n="202"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das verlohrne Paradies.</hi> </fw><lb/>
            <l>Unter deine gewo&#x0364;lbten Schatten; die Stunden des Mittags</l><lb/>
            <l>Hab ich fu&#x0364;r mich, bis der Abend herauf&#x017F;teigt. &#x2014; So kamen &#x017F;ie beyde</l><lb/>
            <l><note place="left">375</note>Zu der waldichten Wohnung, die gleich der Laube <hi rendition="#fr">Pomonens</hi></l><lb/>
            <l>Duftend &#x017F;ie anlacht, mit Blumen geziert, und erfri&#x017F;chenden Blu&#x0364;then.</l><lb/>
            <l>Aber <hi rendition="#fr">Eva</hi> &#x017F;tand nackend, nur mit &#x017F;ich &#x017F;elber ge&#x017F;chmu&#x0364;cket,</l><lb/>
            <l>Und doch reizender noch als eine Waldnymph, und &#x017F;cho&#x0364;ner,</l><lb/>
            <l>Als der drey Fabelgo&#x0364;ttinnen &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te, die vormals auf <hi rendition="#fr">Jda</hi></l><lb/>
            <l><note place="left">380</note>Nackend &#x017F;ich um den Preis der Scho&#x0364;nheit ge&#x017F;tritten. So &#x017F;tand &#x017F;ie</l><lb/>
            <l>Jhren himmli&#x017F;chen Ga&#x017F;t zu bedienen; und keines Schleyers</l><lb/>
            <l>Hatte &#x017F;ie no&#x0364;thig zum Schirme der Keu&#x017F;chheit; kein &#x017F;chwacher Gedanke</l><lb/>
            <l>Durfte die Wangen entfa&#x0364;rben. Mit Heil! empfieng &#x017F;ie der Engel,</l><lb/>
            <l>Und er gab ihr den heiligen Gruß, den er lange nachhero</l><lb/>
            <l><note place="left">385</note>Gegen die hohe <hi rendition="#fr">Maria,</hi> die zweyte <hi rendition="#fr">Eva</hi> <cb/>
<note place="foot" n="t)">Siehe Luk. <hi rendition="#aq">I.</hi> 28. Sie wird die<lb/><hi rendition="#fr">zweyte Eva</hi> genannt, wie Chri&#x017F;tus<lb/><cb/>
manchmal der <hi rendition="#fr">zweyte Adam</hi> genannt<lb/>
wird. <hi rendition="#et"><hi rendition="#fr">N.</hi></hi></note>, gebrauchet.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="28">
            <l>Heil dir! Mutter des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechtes! die fruchtbare Schooß wird</l><lb/>
            <l>Mit mehr So&#x0364;hnen die Welt erfu&#x0364;llen, als mancherley Fru&#x0364;chte</l><lb/>
            <l>Von den Ba&#x0364;umen Gottes auf die&#x017F;e Tafel geha&#x0364;uft &#x017F;ind.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="29">
            <l>Jhre Tafel erhub &#x017F;ich von Ro&#x017F;en, und hatte rund um &#x017F;ich</l><lb/>
            <l><note place="left">390</note>Sitze von weichen Moos. Auf ihrer geraumen Fla&#x0364;che</l><lb/>
            <l>Trug &#x017F;ie von Seite zu Seite den ganzen Herb&#x017F;t aufgethu&#x0364;rmet,</l><lb/>
            <l>Obgleich Hand in Hand der Herb&#x017F;t und der Fru&#x0364;hling hier tanzten.</l><lb/>
            <l>Eine Weil&#x2019; unterhielten &#x017F;ie &#x017F;ich mit holden Ge&#x017F;pra&#x0364;chen,</l><lb/>
            <l>Ohne zu fu&#x0364;rchten, daß ihre Spei&#x017F;en erkalten mo&#x0364;chten.</l><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Und</fw><lb/>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0224] Das verlohrne Paradies. Unter deine gewoͤlbten Schatten; die Stunden des Mittags Hab ich fuͤr mich, bis der Abend heraufſteigt. — So kamen ſie beyde Zu der waldichten Wohnung, die gleich der Laube Pomonens Duftend ſie anlacht, mit Blumen geziert, und erfriſchenden Bluͤthen. Aber Eva ſtand nackend, nur mit ſich ſelber geſchmuͤcket, Und doch reizender noch als eine Waldnymph, und ſchoͤner, Als der drey Fabelgoͤttinnen ſchoͤnſte, die vormals auf Jda Nackend ſich um den Preis der Schoͤnheit geſtritten. So ſtand ſie Jhren himmliſchen Gaſt zu bedienen; und keines Schleyers Hatte ſie noͤthig zum Schirme der Keuſchheit; kein ſchwacher Gedanke Durfte die Wangen entfaͤrben. Mit Heil! empfieng ſie der Engel, Und er gab ihr den heiligen Gruß, den er lange nachhero Gegen die hohe Maria, die zweyte Eva t), gebrauchet. Heil dir! Mutter des Menſchengeſchlechtes! die fruchtbare Schooß wird Mit mehr Soͤhnen die Welt erfuͤllen, als mancherley Fruͤchte Von den Baͤumen Gottes auf dieſe Tafel gehaͤuft ſind. Jhre Tafel erhub ſich von Roſen, und hatte rund um ſich Sitze von weichen Moos. Auf ihrer geraumen Flaͤche Trug ſie von Seite zu Seite den ganzen Herbſt aufgethuͤrmet, Obgleich Hand in Hand der Herbſt und der Fruͤhling hier tanzten. Eine Weil’ unterhielten ſie ſich mit holden Geſpraͤchen, Ohne zu fuͤrchten, daß ihre Speiſen erkalten moͤchten. Und t) Siehe Luk. I. 28. Sie wird die zweyte Eva genannt, wie Chriſtus manchmal der zweyte Adam genannt wird. N.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/224
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/224>, abgerufen am 23.11.2024.