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Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.

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Neunter Gesang.

Diese herrlichen Aepfel zu kosten. Zwey starke Versucher,
Hunger und Durst, beschleunigten auch die Begierde zur Nahrung
605Und den Entschluß, hinauf nach den lockenden Früchten zu klimmen.

Plötzlich wand ich geschmeidig mich auf an dem mosichten Stamme;
Denn die Zweige, vom Boden entfernt, ersoderten deinen,
Oder auch Adams weitreichenden Arm. Die anderen Thiere
Standen zusammen herum um den Stamm, und wünschten sich gleichfalls
610Auf den Baum, doch umsonst, sie konnten die Frucht nicht erreichen.

Als ich mich oben befand, wo vor mir so nah, und so reizend
Dieser Ueberfluß hieng, säumt' ich nicht länger zu pflücken,
Und zu essen, so viel ich gewünscht; denn solches Vergnügen
Hatt' ich noch niemals zuvor an einiger Speise gefunden,
615Oder an einem erquickenden Quell. Nachdem ich mich endlich

Völlig gesättigt, empfand ich bald zu meinem Erstaunen
Eine seltne Verändrung in mir; mein innres Vermögen
Ward zu dem Grad der Vernunft erhöht, und es blieb auch die Sprache
Länger nicht aus, ob ich gleich in diese Gestalt noch beschränkt blieb.
620Jch wandt meine Gedanken nunmehr auf höhere Dinge,

Und auf manche tiefe Betrachtung; mit hellem Verstande
Sah ich alles, was sichtbar war, im Himmel, auf Erden,
Und in der Luft; sah alle schönen vollkommenen Dinge,
Aber sah auch zugleich, daß alles Schöne, Vollkommne,
625Jn dem himmlischen Stral von deiner Schönheit vereint sey,

Und in deinem Gesicht; ich finde nun, nichts auf der Erde
Jst ihr ähnlich, oder ihr gleich. Dieß hat mich bewogen,
Dir mich zu nahn, zur Unzeit vielleicht; und dich zu betrachten,

Dich
M 3

Neunter Geſang.

Dieſe herrlichen Aepfel zu koſten. Zwey ſtarke Verſucher,
Hunger und Durſt, beſchleunigten auch die Begierde zur Nahrung
605Und den Entſchluß, hinauf nach den lockenden Fruͤchten zu klimmen.

Ploͤtzlich wand ich geſchmeidig mich auf an dem moſichten Stamme;
Denn die Zweige, vom Boden entfernt, erſoderten deinen,
Oder auch Adams weitreichenden Arm. Die anderen Thiere
Standen zuſammen herum um den Stamm, und wuͤnſchten ſich gleichfalls
610Auf den Baum, doch umſonſt, ſie konnten die Frucht nicht erreichen.

Als ich mich oben befand, wo vor mir ſo nah, und ſo reizend
Dieſer Ueberfluß hieng, ſaͤumt’ ich nicht laͤnger zu pfluͤcken,
Und zu eſſen, ſo viel ich gewuͤnſcht; denn ſolches Vergnuͤgen
Hatt’ ich noch niemals zuvor an einiger Speiſe gefunden,
615Oder an einem erquickenden Quell. Nachdem ich mich endlich

Voͤllig geſaͤttigt, empfand ich bald zu meinem Erſtaunen
Eine ſeltne Veraͤndrung in mir; mein innres Vermoͤgen
Ward zu dem Grad der Vernunft erhoͤht, und es blieb auch die Sprache
Laͤnger nicht aus, ob ich gleich in dieſe Geſtalt noch beſchraͤnkt blieb.
620Jch wandt meine Gedanken nunmehr auf hoͤhere Dinge,

Und auf manche tiefe Betrachtung; mit hellem Verſtande
Sah ich alles, was ſichtbar war, im Himmel, auf Erden,
Und in der Luft; ſah alle ſchoͤnen vollkommenen Dinge,
Aber ſah auch zugleich, daß alles Schoͤne, Vollkommne,
625Jn dem himmliſchen Stral von deiner Schoͤnheit vereint ſey,

Und in deinem Geſicht; ich finde nun, nichts auf der Erde
Jſt ihr aͤhnlich, oder ihr gleich. Dieß hat mich bewogen,
Dir mich zu nahn, zur Unzeit vielleicht; und dich zu betrachten,

Dich
M 3
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[93/0113] Neunter Geſang. Dieſe herrlichen Aepfel zu koſten. Zwey ſtarke Verſucher, Hunger und Durſt, beſchleunigten auch die Begierde zur Nahrung Und den Entſchluß, hinauf nach den lockenden Fruͤchten zu klimmen. Ploͤtzlich wand ich geſchmeidig mich auf an dem moſichten Stamme; Denn die Zweige, vom Boden entfernt, erſoderten deinen, Oder auch Adams weitreichenden Arm. Die anderen Thiere Standen zuſammen herum um den Stamm, und wuͤnſchten ſich gleichfalls Auf den Baum, doch umſonſt, ſie konnten die Frucht nicht erreichen. Als ich mich oben befand, wo vor mir ſo nah, und ſo reizend Dieſer Ueberfluß hieng, ſaͤumt’ ich nicht laͤnger zu pfluͤcken, Und zu eſſen, ſo viel ich gewuͤnſcht; denn ſolches Vergnuͤgen Hatt’ ich noch niemals zuvor an einiger Speiſe gefunden, Oder an einem erquickenden Quell. Nachdem ich mich endlich Voͤllig geſaͤttigt, empfand ich bald zu meinem Erſtaunen Eine ſeltne Veraͤndrung in mir; mein innres Vermoͤgen Ward zu dem Grad der Vernunft erhoͤht, und es blieb auch die Sprache Laͤnger nicht aus, ob ich gleich in dieſe Geſtalt noch beſchraͤnkt blieb. Jch wandt meine Gedanken nunmehr auf hoͤhere Dinge, Und auf manche tiefe Betrachtung; mit hellem Verſtande Sah ich alles, was ſichtbar war, im Himmel, auf Erden, Und in der Luft; ſah alle ſchoͤnen vollkommenen Dinge, Aber ſah auch zugleich, daß alles Schoͤne, Vollkommne, Jn dem himmliſchen Stral von deiner Schoͤnheit vereint ſey, Und in deinem Geſicht; ich finde nun, nichts auf der Erde Jſt ihr aͤhnlich, oder ihr gleich. Dieß hat mich bewogen, Dir mich zu nahn, zur Unzeit vielleicht; und dich zu betrachten, Dich M 3

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Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/113>, abgerufen am 27.11.2024.