Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.Das verlohrne Paradies. 1100O! zur unglücklichsten Stunde hast du der betrügrischen Schlangen, Eva, Gehör verliehn, wer immer die menschliche Sprach' auch Nachzumachen sie lehrte! Wir finden in unserem Falle Sie zu wahr nur, doch falsch in unsrer versprochnen Erhöhung. Leider ist unser Auge geöffnet! Wir kennen das Gute, 1105Kennen das Böse; das Gut' ist dahin, das Böse gewonnen! Traurige Frucht der Erkenntniß, wenn dieses zu wissen erlangt wird, Was so nackend uns läßt; uns dieser Ehre beraubet, Dieser Reinigkeit, Unschuld und Treu, die ehmals uns schmückten; Jtzo besudelt, befleckt! Jn unserm Angesicht brennen 1110Zeichen der schändlichsten Lust, die nichts als Verderben gebieret, Und die Schaam, das letzte der Uebel, die uns von dem erstern Keinen Zweifel mehr läßt. Wie soll ich das Angesicht Gottes, Und der Engel, in Zukunft ertragen? ich, der es vorher oft Mit entzückenden Freuden geschaut? Die ätherschen Gestalten, 1115Unerträglich nun hell in ihrem himmlischen Glanze, Werden mein Jrdisches völlig verblenden. O könnt' ich hier einsam, Wild, im dicksten Gehölze verborgen, mein Leben vollenden; Da, wo die höhesten Wälder mit undurchdringlichen Zweigen Allem Lichte von Sonn' und Sternen den Eingang verwehren, 1120Und den dicken schrecklichen Schatten weit um sich verbreiten, Schwarz als die Nacht. Verhüllt mich, ihr Tannen! verhüllt mich, ihr Cedern, Mit den unzähligen Zweigen, damit ich, darunter verborgen, Nimmer sie seh! Doch laß uns nunmehr in dem kläglichen Zustand Mit einander erwägen, wie wir für dießmal die Theile, 1125Welche die Schaam am meisten beleidgen, und welche zu sehen, Jtzo
Das verlohrne Paradies. 1100O! zur ungluͤcklichſten Stunde haſt du der betruͤgriſchen Schlangen, Eva, Gehoͤr verliehn, wer immer die menſchliche Sprach’ auch Nachzumachen ſie lehrte! Wir finden in unſerem Falle Sie zu wahr nur, doch falſch in unſrer verſprochnen Erhoͤhung. Leider iſt unſer Auge geoͤffnet! Wir kennen das Gute, 1105Kennen das Boͤſe; das Gut’ iſt dahin, das Boͤſe gewonnen! Traurige Frucht der Erkenntniß, wenn dieſes zu wiſſen erlangt wird, Was ſo nackend uns laͤßt; uns dieſer Ehre beraubet, Dieſer Reinigkeit, Unſchuld und Treu, die ehmals uns ſchmuͤckten; Jtzo beſudelt, befleckt! Jn unſerm Angeſicht brennen 1110Zeichen der ſchaͤndlichſten Luſt, die nichts als Verderben gebieret, Und die Schaam, das letzte der Uebel, die uns von dem erſtern Keinen Zweifel mehr laͤßt. Wie ſoll ich das Angeſicht Gottes, Und der Engel, in Zukunft ertragen? ich, der es vorher oft Mit entzuͤckenden Freuden geſchaut? Die aͤtherſchen Geſtalten, 1115Unertraͤglich nun hell in ihrem himmliſchen Glanze, Werden mein Jrdiſches voͤllig verblenden. O koͤnnt’ ich hier einſam, Wild, im dickſten Gehoͤlze verborgen, mein Leben vollenden; Da, wo die hoͤheſten Waͤlder mit undurchdringlichen Zweigen Allem Lichte von Sonn’ und Sternen den Eingang verwehren, 1120Und den dicken ſchrecklichen Schatten weit um ſich verbreiten, Schwarz als die Nacht. Verhuͤllt mich, ihr Tannen! verhuͤllt mich, ihr Cedern, Mit den unzaͤhligen Zweigen, damit ich, darunter verborgen, Nimmer ſie ſeh! Doch laß uns nunmehr in dem klaͤglichen Zuſtand Mit einander erwaͤgen, wie wir fuͤr dießmal die Theile, 1125Welche die Schaam am meiſten beleidgen, und welche zu ſehen, Jtzo
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Das verlohrne Paradies.
O! zur ungluͤcklichſten Stunde haſt du der betruͤgriſchen Schlangen,
Eva, Gehoͤr verliehn, wer immer die menſchliche Sprach’ auch
Nachzumachen ſie lehrte! Wir finden in unſerem Falle
Sie zu wahr nur, doch falſch in unſrer verſprochnen Erhoͤhung.
Leider iſt unſer Auge geoͤffnet! Wir kennen das Gute,
Kennen das Boͤſe; das Gut’ iſt dahin, das Boͤſe gewonnen!
Traurige Frucht der Erkenntniß, wenn dieſes zu wiſſen erlangt wird,
Was ſo nackend uns laͤßt; uns dieſer Ehre beraubet,
Dieſer Reinigkeit, Unſchuld und Treu, die ehmals uns ſchmuͤckten;
Jtzo beſudelt, befleckt! Jn unſerm Angeſicht brennen
Zeichen der ſchaͤndlichſten Luſt, die nichts als Verderben gebieret,
Und die Schaam, das letzte der Uebel, die uns von dem erſtern
Keinen Zweifel mehr laͤßt. Wie ſoll ich das Angeſicht Gottes,
Und der Engel, in Zukunft ertragen? ich, der es vorher oft
Mit entzuͤckenden Freuden geſchaut? Die aͤtherſchen Geſtalten,
Unertraͤglich nun hell in ihrem himmliſchen Glanze,
Werden mein Jrdiſches voͤllig verblenden. O koͤnnt’ ich hier einſam,
Wild, im dickſten Gehoͤlze verborgen, mein Leben vollenden;
Da, wo die hoͤheſten Waͤlder mit undurchdringlichen Zweigen
Allem Lichte von Sonn’ und Sternen den Eingang verwehren,
Und den dicken ſchrecklichen Schatten weit um ſich verbreiten,
Schwarz als die Nacht. Verhuͤllt mich, ihr Tannen! verhuͤllt mich, ihr Cedern,
Mit den unzaͤhligen Zweigen, damit ich, darunter verborgen,
Nimmer ſie ſeh! Doch laß uns nunmehr in dem klaͤglichen Zuſtand
Mit einander erwaͤgen, wie wir fuͤr dießmal die Theile,
Welche die Schaam am meiſten beleidgen, und welche zu ſehen,
Jtzo
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