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Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.

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Zehnter Gesang.

Noch an diesem schrecklichen Tag' an mir zu erfüllen?
Weshalb muß ich länger noch leben? was spottet man meiner
825Mit dem Tode? warum werd' ich zu Quaalen versparet,

Die nie sterben? Wie freudig wollt' ich der Sterblichkeit Loose,
Meinem Urtheil, entgegen gehn, und fühlloser Staub seyn!
Wie zufrieden wollt' ich in den Staub, als wie in dem Schooße
Meiner Mutter mich niederlegen! Da würd ich in Frieden
830Liegen und schlafen; da würde nicht mehr sein schrecklicher Ausspruch

Jn die Ohren mir donnern; nicht Furcht vor etwas noch ärgern,
Welches künftig mir noch und meinem Geschlechte bevorsteht,
Würde mich mit grausamen Erwartungen länger noch quälen!
Noch ein anderer Zweifel verfolgt mich indessen. Jch fürchte,
835Gänzlich könn' ich nicht sterben! Jch fürchte, der Athem des Lebens,

Dieser denkende Geist, den Gott mir einblies, er könne
Nicht mit dem Staube zugleich, mit diesem Körper vergehen!
Dann würd ich im Grabe, vielleicht in einem noch ärgern
Schrecklichen Orte, wer weiß, welch eines lebendigen Todes
840Sterben! -- O schwarzer Gedanke, wofern es sich also verhielte!

Aber sollt' es so seyn? Es war nur der Athem des Lebens,
Welcher gesündigt? Was kann denn sterben, als dieses, was lebet,
Und gesündiget hat? Der Leib kann keines von beyden;
Also sterb ich auch ganz! Dieß ende den schrecklichen Zweifel,
845Da die Gedanken des Menschen nicht weiter zu reichen vermögen.

Zwar der Schöpfer der Welt, er ist unendlich; doch ist es
Darum sein Zorn? Er sey es indeß, so ist es der Mensch nicht,
Sondern er wurde zu sterben verdammt! Wie könnt' er unendlich

Seinen
U 3

Zehnter Geſang.

Noch an dieſem ſchrecklichen Tag’ an mir zu erfuͤllen?
Weshalb muß ich laͤnger noch leben? was ſpottet man meiner
825Mit dem Tode? warum werd’ ich zu Quaalen verſparet,

Die nie ſterben? Wie freudig wollt’ ich der Sterblichkeit Looſe,
Meinem Urtheil, entgegen gehn, und fuͤhlloſer Staub ſeyn!
Wie zufrieden wollt’ ich in den Staub, als wie in dem Schooße
Meiner Mutter mich niederlegen! Da wuͤrd ich in Frieden
830Liegen und ſchlafen; da wuͤrde nicht mehr ſein ſchrecklicher Ausſpruch

Jn die Ohren mir donnern; nicht Furcht vor etwas noch aͤrgern,
Welches kuͤnftig mir noch und meinem Geſchlechte bevorſteht,
Wuͤrde mich mit grauſamen Erwartungen laͤnger noch quaͤlen!
Noch ein anderer Zweifel verfolgt mich indeſſen. Jch fuͤrchte,
835Gaͤnzlich koͤnn’ ich nicht ſterben! Jch fuͤrchte, der Athem des Lebens,

Dieſer denkende Geiſt, den Gott mir einblies, er koͤnne
Nicht mit dem Staube zugleich, mit dieſem Koͤrper vergehen!
Dann wuͤrd ich im Grabe, vielleicht in einem noch aͤrgern
Schrecklichen Orte, wer weiß, welch eines lebendigen Todes
840Sterben! — O ſchwarzer Gedanke, wofern es ſich alſo verhielte!

Aber ſollt’ es ſo ſeyn? Es war nur der Athem des Lebens,
Welcher geſuͤndigt? Was kann denn ſterben, als dieſes, was lebet,
Und geſuͤndiget hat? Der Leib kann keines von beyden;
Alſo ſterb ich auch ganz! Dieß ende den ſchrecklichen Zweifel,
845Da die Gedanken des Menſchen nicht weiter zu reichen vermoͤgen.

Zwar der Schoͤpfer der Welt, er iſt unendlich; doch iſt es
Darum ſein Zorn? Er ſey es indeß, ſo iſt es der Menſch nicht,
Sondern er wurde zu ſterben verdammt! Wie koͤnnt’ er unendlich

Seinen
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[157/0179] Zehnter Geſang. Noch an dieſem ſchrecklichen Tag’ an mir zu erfuͤllen? Weshalb muß ich laͤnger noch leben? was ſpottet man meiner Mit dem Tode? warum werd’ ich zu Quaalen verſparet, Die nie ſterben? Wie freudig wollt’ ich der Sterblichkeit Looſe, Meinem Urtheil, entgegen gehn, und fuͤhlloſer Staub ſeyn! Wie zufrieden wollt’ ich in den Staub, als wie in dem Schooße Meiner Mutter mich niederlegen! Da wuͤrd ich in Frieden Liegen und ſchlafen; da wuͤrde nicht mehr ſein ſchrecklicher Ausſpruch Jn die Ohren mir donnern; nicht Furcht vor etwas noch aͤrgern, Welches kuͤnftig mir noch und meinem Geſchlechte bevorſteht, Wuͤrde mich mit grauſamen Erwartungen laͤnger noch quaͤlen! Noch ein anderer Zweifel verfolgt mich indeſſen. Jch fuͤrchte, Gaͤnzlich koͤnn’ ich nicht ſterben! Jch fuͤrchte, der Athem des Lebens, Dieſer denkende Geiſt, den Gott mir einblies, er koͤnne Nicht mit dem Staube zugleich, mit dieſem Koͤrper vergehen! Dann wuͤrd ich im Grabe, vielleicht in einem noch aͤrgern Schrecklichen Orte, wer weiß, welch eines lebendigen Todes Sterben! — O ſchwarzer Gedanke, wofern es ſich alſo verhielte! Aber ſollt’ es ſo ſeyn? Es war nur der Athem des Lebens, Welcher geſuͤndigt? Was kann denn ſterben, als dieſes, was lebet, Und geſuͤndiget hat? Der Leib kann keines von beyden; Alſo ſterb ich auch ganz! Dieß ende den ſchrecklichen Zweifel, Da die Gedanken des Menſchen nicht weiter zu reichen vermoͤgen. Zwar der Schoͤpfer der Welt, er iſt unendlich; doch iſt es Darum ſein Zorn? Er ſey es indeß, ſo iſt es der Menſch nicht, Sondern er wurde zu ſterben verdammt! Wie koͤnnt’ er unendlich Seinen U 3

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Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/179>, abgerufen am 23.11.2024.