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Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.

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Aber auf einmal nun in des stattlichen Werkes Be¬
trachtung
Wächst ihm der Geist, und er nimmt die mächtige Kohle
vom Boden,

Legt vor das offene Buch sich nieder und schreibet aus
Kräften,

Grad' und krumme Strich', in unnachsagbaren Sprachen,
Krazt und schreibt und brummelt dabei nach seiner Ge¬
wohnheit.

Anderthalb Tag handthieret er so, kaum gönnet er Zeit
sich,

Speise zu nehmen und Trank, bis die lezte Seite ge¬
füllt ist.

Endlich folget am Schlusse das Punktum, groß wie ein
Kindskopf.

Tief aufathmend erhebet er sich, das Buch zuschmetternd.
Jetzo, nachdem er das Herz sich gestärkt mit reichlicher
Mahlzeit,
Nimmt er den Hut und den Stock und reiset. Auf ein¬
samen Pfaden

Immer gen Mitternacht läuft er: dies ist der Weg zu
den Todten.

Schon mit dem fünften Morgen erreicht er die finstere
Pforte.

Purpurn streifte so eben die Morgenröthe den Himmel,
Welche den lebenden Menschen das Licht des Tages ver¬
kündet,

Als er hinunterstieg, furchtlos, die felsigen Hallen.
Aber er hatte der Stunden noch zweimal zwölfe zu wandeln
Aber auf einmal nun in des ſtattlichen Werkes Be¬
trachtung
Waͤchst ihm der Geiſt, und er nimmt die maͤchtige Kohle
vom Boden,

Legt vor das offene Buch ſich nieder und ſchreibet aus
Kraͤften,

Grad' und krumme Strich', in unnachſagbaren Sprachen,
Krazt und ſchreibt und brummelt dabei nach ſeiner Ge¬
wohnheit.

Anderthalb Tag handthieret er ſo, kaum goͤnnet er Zeit
ſich,

Speiſe zu nehmen und Trank, bis die lezte Seite ge¬
fuͤllt iſt.

Endlich folget am Schluſſe das Punktum, groß wie ein
Kindskopf.

Tief aufathmend erhebet er ſich, das Buch zuſchmetternd.
Jetzo, nachdem er das Herz ſich geſtaͤrkt mit reichlicher
Mahlzeit,
Nimmt er den Hut und den Stock und reiſet. Auf ein¬
ſamen Pfaden

Immer gen Mitternacht laͤuft er: dies iſt der Weg zu
den Todten.

Schon mit dem fuͤnften Morgen erreicht er die finſtere
Pforte.

Purpurn ſtreifte ſo eben die Morgenroͤthe den Himmel,
Welche den lebenden Menſchen das Licht des Tages ver¬
kuͤndet,

Als er hinunterſtieg, furchtlos, die felſigen Hallen.
Aber er hatte der Stunden noch zweimal zwoͤlfe zu wandeln
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[184/0200] Aber auf einmal nun in des ſtattlichen Werkes Be¬ trachtung Waͤchst ihm der Geiſt, und er nimmt die maͤchtige Kohle vom Boden, Legt vor das offene Buch ſich nieder und ſchreibet aus Kraͤften, Grad' und krumme Strich', in unnachſagbaren Sprachen, Krazt und ſchreibt und brummelt dabei nach ſeiner Ge¬ wohnheit. Anderthalb Tag handthieret er ſo, kaum goͤnnet er Zeit ſich, Speiſe zu nehmen und Trank, bis die lezte Seite ge¬ fuͤllt iſt. Endlich folget am Schluſſe das Punktum, groß wie ein Kindskopf. Tief aufathmend erhebet er ſich, das Buch zuſchmetternd. Jetzo, nachdem er das Herz ſich geſtaͤrkt mit reichlicher Mahlzeit, Nimmt er den Hut und den Stock und reiſet. Auf ein¬ ſamen Pfaden Immer gen Mitternacht laͤuft er: dies iſt der Weg zu den Todten. Schon mit dem fuͤnften Morgen erreicht er die finſtere Pforte. Purpurn ſtreifte ſo eben die Morgenroͤthe den Himmel, Welche den lebenden Menſchen das Licht des Tages ver¬ kuͤndet, Als er hinunterſtieg, furchtlos, die felſigen Hallen. Aber er hatte der Stunden noch zweimal zwoͤlfe zu wandeln

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/200>, abgerufen am 21.11.2024.