Hahn und Knopf auf dem Thurme -- ein Unsicht- bares, hinter jeder todten Sache ein geistig Etwas steckt, das sein eignes, in sich verborgnes Leben an- dächtig abgeschlossen hegt, wo Alles Ausdruck, Alles Physiognomie annimmt."
"Nur werden Sie mir zugeben," versezte Nol- ten, "daß dergleichen Eigenheiten auch gefährlich wer- den können, wenn ich Ihnen den freilich nur sehr schwachen Anfang einer fixen Idee in einem Kinder- gemüth vortrage, einen Fall, den Sie wenigstens bei diesem Alter nicht gesucht haben würden. Ich rede von meiner Braut, von Agnesen. Da das gute Kind es nicht hört, so können wir offen davon spre- chen; es ist zugleich ein Beweis, wie ein unheimli- cher Hang bei ihrer übrigens so reinen und schönen Natur doch frühzeitig vorhanden war, und wie sehr man seit den Vorfällen vom vorigen Jahre Ursache haben mag, sich bei ihr in Acht zu nehmen. Erzäh- len Sie's dem Herrn Baron, Vater, da ich's ja auch nur von Ihnen erfuhr; wissen Sie, die frühere Grille des Mädchens bei Gelegenheit als vom Auslande, von fremden Städten, die Rede war."
"Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforstmei- ster, von Ihren Reisen zurückkamen, und die Gnade hatten, manchmal in meinem Hause davon zu erzäh- len. Dieser Herr, nachdenklich und ernsthaft, aber freundlich und gut gegen Kinder, machte auf das Mäd-
Hahn und Knopf auf dem Thurme — ein Unſicht- bares, hinter jeder todten Sache ein geiſtig Etwas ſteckt, das ſein eignes, in ſich verborgnes Leben an- dächtig abgeſchloſſen hegt, wo Alles Ausdruck, Alles Phyſiognomie annimmt.“
„Nur werden Sie mir zugeben,“ verſezte Nol- ten, „daß dergleichen Eigenheiten auch gefährlich wer- den können, wenn ich Ihnen den freilich nur ſehr ſchwachen Anfang einer fixen Idee in einem Kinder- gemüth vortrage, einen Fall, den Sie wenigſtens bei dieſem Alter nicht geſucht haben würden. Ich rede von meiner Braut, von Agneſen. Da das gute Kind es nicht hört, ſo können wir offen davon ſpre- chen; es iſt zugleich ein Beweis, wie ein unheimli- cher Hang bei ihrer übrigens ſo reinen und ſchönen Natur doch frühzeitig vorhanden war, und wie ſehr man ſeit den Vorfällen vom vorigen Jahre Urſache haben mag, ſich bei ihr in Acht zu nehmen. Erzäh- len Sie’s dem Herrn Baron, Vater, da ich’s ja auch nur von Ihnen erfuhr; wiſſen Sie, die frühere Grille des Mädchens bei Gelegenheit als vom Auslande, von fremden Städten, die Rede war.“
„Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforſtmei- ſter, von Ihren Reiſen zurückkamen, und die Gnade hatten, manchmal in meinem Hauſe davon zu erzäh- len. Dieſer Herr, nachdenklich und ernſthaft, aber freundlich und gut gegen Kinder, machte auf das Mäd-
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Hahn und Knopf auf dem Thurme — ein Unſicht-
bares, hinter jeder todten Sache ein geiſtig Etwas
ſteckt, das ſein eignes, in ſich verborgnes Leben an-
dächtig abgeſchloſſen hegt, wo Alles Ausdruck, Alles
Phyſiognomie annimmt.“
„Nur werden Sie mir zugeben,“ verſezte Nol-
ten, „daß dergleichen Eigenheiten auch gefährlich wer-
den können, wenn ich Ihnen den freilich nur ſehr
ſchwachen Anfang einer fixen Idee in einem Kinder-
gemüth vortrage, einen Fall, den Sie wenigſtens bei
dieſem Alter nicht geſucht haben würden. Ich rede
von meiner Braut, von Agneſen. Da das gute
Kind es nicht hört, ſo können wir offen davon ſpre-
chen; es iſt zugleich ein Beweis, wie ein unheimli-
cher Hang bei ihrer übrigens ſo reinen und ſchönen
Natur doch frühzeitig vorhanden war, und wie ſehr
man ſeit den Vorfällen vom vorigen Jahre Urſache
haben mag, ſich bei ihr in Acht zu nehmen. Erzäh-
len Sie’s dem Herrn Baron, Vater, da ich’s ja auch
nur von Ihnen erfuhr; wiſſen Sie, die frühere Grille
des Mädchens bei Gelegenheit als vom Auslande,
von fremden Städten, die Rede war.“
„Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur
Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforſtmei-
ſter, von Ihren Reiſen zurückkamen, und die Gnade
hatten, manchmal in meinem Hauſe davon zu erzäh-
len. Dieſer Herr, nachdenklich und ernſthaft, aber
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/107>, abgerufen am 21.11.2024.
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