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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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Der Maler verließ den folgenden Tag in aller
Frühe das Schloß: der Präsident selbst hatte dazu
gerathen und ihm eines seiner Pferde geliehen. Es
war vor der Hand nur um einen Versuch mit einigen
Tagen zu thun, wie das Mädchen sich anließe, wenn
Theobald ihr aus den Augen wäre. Er selbst schien
bei seiner Abreise noch unentschlossen, wohin er sich
wende. Auf alle Fälle ward ein dritter Ort bestimmt,
um zur Noth Botschaft für ihn hinterlegen zu können.
Von W * war nicht die Rede; noch kürzlich hatte er
dorthin um Frist geschrieben, im Herzen übrigens gleich-
gültig, ob sie ihm gewährt würde oder die ganze Sache
sich zerschlüge.

Die größere Ruhe, die man bei Agnes, seit
der Gegenstand ihrer Furcht verschwunden ist, alsbald
wahrnehmen kann, wird nach und nach zur stillen
Schwermuth, ihre Geschwätzigkeit nimmt ab, sie ist sich
ihres Uebels zu Zeiten bewußt und der kleinste Zufall,
der sie daran erinnert, ein Wort, ein Blick von Sei-
ten ihrer Umgebung kann sie empfindlich kränken.
Auffallend ist in dieser Hinsicht folgender Zug. Der
Präsident, oder Margot vielmehr, besaß ein großes
Windspiel, dem man, seiner ausgezeichneten Schönheit
wegen, den Namen Merveille gegeben. Der Hund
erzeigte sich Agnesen früher nicht abgeneigt, seit ei-
niger Zeit aber floh er sie offenbar, verkroch sich or-
dentlich vor ihr. Ohne Zweifel hatte diese Scheu ei-
nen sehr natürlichen Grund, Agnes mochte ihn un-

Der Maler verließ den folgenden Tag in aller
Frühe das Schloß: der Präſident ſelbſt hatte dazu
gerathen und ihm eines ſeiner Pferde geliehen. Es
war vor der Hand nur um einen Verſuch mit einigen
Tagen zu thun, wie das Mädchen ſich anließe, wenn
Theobald ihr aus den Augen wäre. Er ſelbſt ſchien
bei ſeiner Abreiſe noch unentſchloſſen, wohin er ſich
wende. Auf alle Fälle ward ein dritter Ort beſtimmt,
um zur Noth Botſchaft für ihn hinterlegen zu können.
Von W * war nicht die Rede; noch kürzlich hatte er
dorthin um Friſt geſchrieben, im Herzen übrigens gleich-
gültig, ob ſie ihm gewährt würde oder die ganze Sache
ſich zerſchlüge.

Die größere Ruhe, die man bei Agnes, ſeit
der Gegenſtand ihrer Furcht verſchwunden iſt, alsbald
wahrnehmen kann, wird nach und nach zur ſtillen
Schwermuth, ihre Geſchwätzigkeit nimmt ab, ſie iſt ſich
ihres Uebels zu Zeiten bewußt und der kleinſte Zufall,
der ſie daran erinnert, ein Wort, ein Blick von Sei-
ten ihrer Umgebung kann ſie empfindlich kränken.
Auffallend iſt in dieſer Hinſicht folgender Zug. Der
Präſident, oder Margot vielmehr, beſaß ein großes
Windſpiel, dem man, ſeiner ausgezeichneten Schönheit
wegen, den Namen Merveille gegeben. Der Hund
erzeigte ſich Agneſen früher nicht abgeneigt, ſeit ei-
niger Zeit aber floh er ſie offenbar, verkroch ſich or-
dentlich vor ihr. Ohne Zweifel hatte dieſe Scheu ei-
nen ſehr natürlichen Grund, Agnes mochte ihn un-

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[616/0302] Der Maler verließ den folgenden Tag in aller Frühe das Schloß: der Präſident ſelbſt hatte dazu gerathen und ihm eines ſeiner Pferde geliehen. Es war vor der Hand nur um einen Verſuch mit einigen Tagen zu thun, wie das Mädchen ſich anließe, wenn Theobald ihr aus den Augen wäre. Er ſelbſt ſchien bei ſeiner Abreiſe noch unentſchloſſen, wohin er ſich wende. Auf alle Fälle ward ein dritter Ort beſtimmt, um zur Noth Botſchaft für ihn hinterlegen zu können. Von W * war nicht die Rede; noch kürzlich hatte er dorthin um Friſt geſchrieben, im Herzen übrigens gleich- gültig, ob ſie ihm gewährt würde oder die ganze Sache ſich zerſchlüge. Die größere Ruhe, die man bei Agnes, ſeit der Gegenſtand ihrer Furcht verſchwunden iſt, alsbald wahrnehmen kann, wird nach und nach zur ſtillen Schwermuth, ihre Geſchwätzigkeit nimmt ab, ſie iſt ſich ihres Uebels zu Zeiten bewußt und der kleinſte Zufall, der ſie daran erinnert, ein Wort, ein Blick von Sei- ten ihrer Umgebung kann ſie empfindlich kränken. Auffallend iſt in dieſer Hinſicht folgender Zug. Der Präſident, oder Margot vielmehr, beſaß ein großes Windſpiel, dem man, ſeiner ausgezeichneten Schönheit wegen, den Namen Merveille gegeben. Der Hund erzeigte ſich Agneſen früher nicht abgeneigt, ſeit ei- niger Zeit aber floh er ſie offenbar, verkroch ſich or- dentlich vor ihr. Ohne Zweifel hatte dieſe Scheu ei- nen ſehr natürlichen Grund, Agnes mochte ihn un-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/302>, abgerufen am 21.11.2024.