der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen- blick öffnet, und fährt gelassen in seiner Rede fort. Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln, Geschirre hin und her stellen und dazwischen wohl- gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen. Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un- bedeutendste Sache von der Welt hat ihn überrascht. Es gibt unschuldige Kleinigkeiten, die mit unserm Be- griffe von einer Person, wenn er nur einigermaßen etwas Idealisches hat, schlechterdings zu streiten schei- nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol- ten von dieser Empfindung berührt, von einer unan- genehmen, wenn man will, und sogleich fühlte er die- selbe in eine ganz entgegengesezte, oder vielmehr in eine gemischte, umschlagen, wobei ein pikanter Reiz unwiderstehlich war. Er hätte aufspringen mögen, die gespizten Lippen zu küssen und zu beißen, doch verharrte er auf seinem Sitz, bis das Kind unbefan- gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte nicht, was es ihm verbot) den närrischen Grund sei- ner verliebten Laune zu verrathen. "Ei," rief der Vater dazwischen "bis wir trinken, hole doch die Man- doline! das ist dir, glaub' ich, noch gar nicht einge- fallen." Wie Feuer so roth wurde das schöne Kind bei diesem Wort. Es gibt einen Grad von Verle- genheit, der wirklich furchtbar ist und das höchste Mitleid fordert; er kam bei Agnes selten vor, war
der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen- blick öffnet, und fährt gelaſſen in ſeiner Rede fort. Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln, Geſchirre hin und her ſtellen und dazwiſchen wohl- gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen. Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un- bedeutendſte Sache von der Welt hat ihn überraſcht. Es gibt unſchuldige Kleinigkeiten, die mit unſerm Be- griffe von einer Perſon, wenn er nur einigermaßen etwas Idealiſches hat, ſchlechterdings zu ſtreiten ſchei- nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol- ten von dieſer Empfindung berührt, von einer unan- genehmen, wenn man will, und ſogleich fühlte er die- ſelbe in eine ganz entgegengeſezte, oder vielmehr in eine gemiſchte, umſchlagen, wobei ein pikanter Reiz unwiderſtehlich war. Er hätte aufſpringen mögen, die geſpizten Lippen zu küſſen und zu beißen, doch verharrte er auf ſeinem Sitz, bis das Kind unbefan- gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte nicht, was es ihm verbot) den närriſchen Grund ſei- ner verliebten Laune zu verrathen. „Ei,“ rief der Vater dazwiſchen „bis wir trinken, hole doch die Man- doline! das iſt dir, glaub’ ich, noch gar nicht einge- fallen.“ Wie Feuer ſo roth wurde das ſchöne Kind bei dieſem Wort. Es gibt einen Grad von Verle- genheit, der wirklich furchtbar iſt und das höchſte Mitleid fordert; er kam bei Agnes ſelten vor, war
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0094"n="408"/>
der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen-<lb/>
blick öffnet, und fährt gelaſſen in ſeiner Rede fort.<lb/>
Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln,<lb/>
Geſchirre hin und her ſtellen und dazwiſchen wohl-<lb/>
gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen.<lb/>
Unwillkürlich mußte <hirendition="#g">Nolten</hi> laut auflachen: die un-<lb/>
bedeutendſte Sache von der Welt hat ihn überraſcht.<lb/>
Es gibt unſchuldige Kleinigkeiten, die mit unſerm Be-<lb/>
griffe von einer Perſon, wenn er nur einigermaßen<lb/>
etwas Idealiſches hat, ſchlechterdings zu ſtreiten ſchei-<lb/>
nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward <hirendition="#g">Nol-<lb/>
ten</hi> von dieſer Empfindung berührt, von einer unan-<lb/>
genehmen, wenn man will, und ſogleich fühlte er die-<lb/>ſelbe in eine ganz entgegengeſezte, oder vielmehr in<lb/>
eine gemiſchte, umſchlagen, wobei ein pikanter Reiz<lb/>
unwiderſtehlich war. Er hätte aufſpringen mögen,<lb/>
die geſpizten Lippen zu küſſen und zu beißen, doch<lb/>
verharrte er auf ſeinem Sitz, bis das Kind unbefan-<lb/>
gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den<lb/>
Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte<lb/>
nicht, was es ihm verbot) den närriſchen Grund ſei-<lb/>
ner verliebten Laune zu verrathen. „Ei,“ rief der<lb/>
Vater dazwiſchen „bis wir trinken, hole doch die Man-<lb/>
doline! das iſt dir, glaub’ ich, noch gar nicht einge-<lb/>
fallen.“ Wie Feuer ſo roth wurde das ſchöne Kind<lb/>
bei dieſem Wort. Es gibt einen Grad von Verle-<lb/>
genheit, der wirklich furchtbar iſt und das höchſte<lb/>
Mitleid fordert; er kam bei <hirendition="#g">Agnes</hi>ſelten vor, war<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[408/0094]
der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen-
blick öffnet, und fährt gelaſſen in ſeiner Rede fort.
Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln,
Geſchirre hin und her ſtellen und dazwiſchen wohl-
gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen.
Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un-
bedeutendſte Sache von der Welt hat ihn überraſcht.
Es gibt unſchuldige Kleinigkeiten, die mit unſerm Be-
griffe von einer Perſon, wenn er nur einigermaßen
etwas Idealiſches hat, ſchlechterdings zu ſtreiten ſchei-
nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol-
ten von dieſer Empfindung berührt, von einer unan-
genehmen, wenn man will, und ſogleich fühlte er die-
ſelbe in eine ganz entgegengeſezte, oder vielmehr in
eine gemiſchte, umſchlagen, wobei ein pikanter Reiz
unwiderſtehlich war. Er hätte aufſpringen mögen,
die geſpizten Lippen zu küſſen und zu beißen, doch
verharrte er auf ſeinem Sitz, bis das Kind unbefan-
gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den
Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte
nicht, was es ihm verbot) den närriſchen Grund ſei-
ner verliebten Laune zu verrathen. „Ei,“ rief der
Vater dazwiſchen „bis wir trinken, hole doch die Man-
doline! das iſt dir, glaub’ ich, noch gar nicht einge-
fallen.“ Wie Feuer ſo roth wurde das ſchöne Kind
bei dieſem Wort. Es gibt einen Grad von Verle-
genheit, der wirklich furchtbar iſt und das höchſte
Mitleid fordert; er kam bei Agnes ſelten vor, war
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/94>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.