Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen-
blick öffnet, und fährt gelassen in seiner Rede fort.
Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln,
Geschirre hin und her stellen und dazwischen wohl-
gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen.
Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un-
bedeutendste Sache von der Welt hat ihn überrascht.
Es gibt unschuldige Kleinigkeiten, die mit unserm Be-
griffe von einer Person, wenn er nur einigermaßen
etwas Idealisches hat, schlechterdings zu streiten schei-
nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol-
ten
von dieser Empfindung berührt, von einer unan-
genehmen, wenn man will, und sogleich fühlte er die-
selbe in eine ganz entgegengesezte, oder vielmehr in
eine gemischte, umschlagen, wobei ein pikanter Reiz
unwiderstehlich war. Er hätte aufspringen mögen,
die gespizten Lippen zu küssen und zu beißen, doch
verharrte er auf seinem Sitz, bis das Kind unbefan-
gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den
Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte
nicht, was es ihm verbot) den närrischen Grund sei-
ner verliebten Laune zu verrathen. "Ei," rief der
Vater dazwischen "bis wir trinken, hole doch die Man-
doline! das ist dir, glaub' ich, noch gar nicht einge-
fallen." Wie Feuer so roth wurde das schöne Kind
bei diesem Wort. Es gibt einen Grad von Verle-
genheit, der wirklich furchtbar ist und das höchste
Mitleid fordert; er kam bei Agnes selten vor, war

der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen-
blick öffnet, und fährt gelaſſen in ſeiner Rede fort.
Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln,
Geſchirre hin und her ſtellen und dazwiſchen wohl-
gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen.
Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un-
bedeutendſte Sache von der Welt hat ihn überraſcht.
Es gibt unſchuldige Kleinigkeiten, die mit unſerm Be-
griffe von einer Perſon, wenn er nur einigermaßen
etwas Idealiſches hat, ſchlechterdings zu ſtreiten ſchei-
nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol-
ten
von dieſer Empfindung berührt, von einer unan-
genehmen, wenn man will, und ſogleich fühlte er die-
ſelbe in eine ganz entgegengeſezte, oder vielmehr in
eine gemiſchte, umſchlagen, wobei ein pikanter Reiz
unwiderſtehlich war. Er hätte aufſpringen mögen,
die geſpizten Lippen zu küſſen und zu beißen, doch
verharrte er auf ſeinem Sitz, bis das Kind unbefan-
gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den
Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte
nicht, was es ihm verbot) den närriſchen Grund ſei-
ner verliebten Laune zu verrathen. „Ei,“ rief der
Vater dazwiſchen „bis wir trinken, hole doch die Man-
doline! das iſt dir, glaub’ ich, noch gar nicht einge-
fallen.“ Wie Feuer ſo roth wurde das ſchöne Kind
bei dieſem Wort. Es gibt einen Grad von Verle-
genheit, der wirklich furchtbar iſt und das höchſte
Mitleid fordert; er kam bei Agnes ſelten vor, war

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0094" n="408"/>
der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen-<lb/>
blick öffnet, und fährt gela&#x017F;&#x017F;en in &#x017F;einer Rede fort.<lb/>
Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln,<lb/>
Ge&#x017F;chirre hin und her &#x017F;tellen und dazwi&#x017F;chen wohl-<lb/>
gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen.<lb/>
Unwillkürlich mußte <hi rendition="#g">Nolten</hi> laut auflachen: die un-<lb/>
bedeutend&#x017F;te Sache von der Welt hat ihn überra&#x017F;cht.<lb/>
Es gibt un&#x017F;chuldige Kleinigkeiten, die mit un&#x017F;erm Be-<lb/>
griffe von einer Per&#x017F;on, wenn er nur einigermaßen<lb/>
etwas Ideali&#x017F;ches hat, &#x017F;chlechterdings zu &#x017F;treiten &#x017F;chei-<lb/>
nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward <hi rendition="#g">Nol-<lb/>
ten</hi> von die&#x017F;er Empfindung berührt, von einer unan-<lb/>
genehmen, wenn man will, und &#x017F;ogleich fühlte er die-<lb/>
&#x017F;elbe in eine ganz entgegenge&#x017F;ezte, oder vielmehr in<lb/>
eine gemi&#x017F;chte, um&#x017F;chlagen, wobei ein pikanter Reiz<lb/>
unwider&#x017F;tehlich war. Er hätte auf&#x017F;pringen mögen,<lb/>
die ge&#x017F;pizten Lippen zu kü&#x017F;&#x017F;en und zu beißen, doch<lb/>
verharrte er auf &#x017F;einem Sitz, bis das Kind unbefan-<lb/>
gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den<lb/>
Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte<lb/>
nicht, was es ihm verbot) den närri&#x017F;chen Grund &#x017F;ei-<lb/>
ner verliebten Laune zu verrathen. &#x201E;Ei,&#x201C; rief der<lb/>
Vater dazwi&#x017F;chen &#x201E;bis wir trinken, hole doch die Man-<lb/>
doline! das i&#x017F;t dir, glaub&#x2019; ich, noch gar nicht einge-<lb/>
fallen.&#x201C; Wie Feuer &#x017F;o roth wurde das &#x017F;chöne Kind<lb/>
bei die&#x017F;em Wort. Es gibt einen Grad von Verle-<lb/>
genheit, der wirklich furchtbar i&#x017F;t und das höch&#x017F;te<lb/>
Mitleid fordert; er kam bei <hi rendition="#g">Agnes</hi> &#x017F;elten vor, war<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[408/0094] der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen- blick öffnet, und fährt gelaſſen in ſeiner Rede fort. Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln, Geſchirre hin und her ſtellen und dazwiſchen wohl- gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen. Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un- bedeutendſte Sache von der Welt hat ihn überraſcht. Es gibt unſchuldige Kleinigkeiten, die mit unſerm Be- griffe von einer Perſon, wenn er nur einigermaßen etwas Idealiſches hat, ſchlechterdings zu ſtreiten ſchei- nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol- ten von dieſer Empfindung berührt, von einer unan- genehmen, wenn man will, und ſogleich fühlte er die- ſelbe in eine ganz entgegengeſezte, oder vielmehr in eine gemiſchte, umſchlagen, wobei ein pikanter Reiz unwiderſtehlich war. Er hätte aufſpringen mögen, die geſpizten Lippen zu küſſen und zu beißen, doch verharrte er auf ſeinem Sitz, bis das Kind unbefan- gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte nicht, was es ihm verbot) den närriſchen Grund ſei- ner verliebten Laune zu verrathen. „Ei,“ rief der Vater dazwiſchen „bis wir trinken, hole doch die Man- doline! das iſt dir, glaub’ ich, noch gar nicht einge- fallen.“ Wie Feuer ſo roth wurde das ſchöne Kind bei dieſem Wort. Es gibt einen Grad von Verle- genheit, der wirklich furchtbar iſt und das höchſte Mitleid fordert; er kam bei Agnes ſelten vor, war

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/94
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/94>, abgerufen am 21.11.2024.