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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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Jeder zahle seine Zeche.

Müßte in Frankreich jedes Kirchspiel seine Fündlinge un-
terhalten: so würde eine Nachbarin auf die andre genau ach-
ten; der Schulze im Dorfe würde seine Angeber überall hal-
ten, und manche arme Hure, die ihr Kind auf die allgemeine
Landesbarmherzigkeit aussetzt, in Zeiten genährt, unterstützt,
und mit der Halbscheid desjenigen, was sie der gemeinen An-
stalt kostet, bey mütterlichen Gesinnungen erhalten werden.

Eben das läßt sich von den Armen und Unglücklichen sagen,
die auf Kosten einer gemeinen Anstalt ihre Versorgung finden.
Der Pfarrer, um ihnen sein Mitleid zu bezeugen, und sich
des ungestümen Bettlens zu erwehren, giebt ihnen das Zeug-
niß der Dürftigkeit aus guten Herzen. Der Vogt denkt;
unser Herr Pastor wird es wissen, und hierauf bezeugt er al-
les der Wahrheit gemäß; die Kirchspielsvorsteher schreiben
ihren Namen unbedenklich darunter, weil es nicht unmittel-
bar auf ihre Rechnung geht; und so läuft alles der gemeinen
Zeche zu, wozu hernach manches Kirchspiel ein Stückfaß lie-
fern muß, was seine Durstigen höchstens mit einen Anker
erquicken könnte.

Was hilft es, sagte neulich ein Bauer zu mir, daß wir
nach der Verordnung unsre Arme ernähren, ihre Kinder zur
zeitigen Arbeit gewehnen, keinem fremden Bettler in unsre
Nebenhäuser aufnehmen; und solchergestalt einer Seits den
Geist der Betteley zu ersticken suchen, ander Seits aber unsre
wahren Armen versorgen? Was hilft es, daß wir strenge sind,
keinen sür Arm erkennen, der es nicht würklich ist, keinem
andern Zeugniß als dem Zeugnisse unser Augen trauen, und
uns alle Jahr zweymal zur Ader lassen, damit unser Herr
Chirurgus die Verunglückten umsonst curiren möge: wenn
andre Kirchspiele nicht ein gleiches thun? wenn diese alles
was nur geht und kommt zur Heuer einnehmen, und ihr aus-

gehun-
Jeder zahle ſeine Zeche.

Muͤßte in Frankreich jedes Kirchſpiel ſeine Fuͤndlinge un-
terhalten: ſo wuͤrde eine Nachbarin auf die andre genau ach-
ten; der Schulze im Dorfe wuͤrde ſeine Angeber uͤberall hal-
ten, und manche arme Hure, die ihr Kind auf die allgemeine
Landesbarmherzigkeit ausſetzt, in Zeiten genaͤhrt, unterſtuͤtzt,
und mit der Halbſcheid desjenigen, was ſie der gemeinen An-
ſtalt koſtet, bey muͤtterlichen Geſinnungen erhalten werden.

Eben das laͤßt ſich von den Armen und Ungluͤcklichen ſagen,
die auf Koſten einer gemeinen Anſtalt ihre Verſorgung finden.
Der Pfarrer, um ihnen ſein Mitleid zu bezeugen, und ſich
des ungeſtuͤmen Bettlens zu erwehren, giebt ihnen das Zeug-
niß der Duͤrftigkeit aus guten Herzen. Der Vogt denkt;
unſer Herr Paſtor wird es wiſſen, und hierauf bezeugt er al-
les der Wahrheit gemaͤß; die Kirchſpielsvorſteher ſchreiben
ihren Namen unbedenklich darunter, weil es nicht unmittel-
bar auf ihre Rechnung geht; und ſo laͤuft alles der gemeinen
Zeche zu, wozu hernach manches Kirchſpiel ein Stuͤckfaß lie-
fern muß, was ſeine Durſtigen hoͤchſtens mit einen Anker
erquicken koͤnnte.

Was hilft es, ſagte neulich ein Bauer zu mir, daß wir
nach der Verordnung unſre Arme ernaͤhren, ihre Kinder zur
zeitigen Arbeit gewehnen, keinem fremden Bettler in unſre
Nebenhaͤuſer aufnehmen; und ſolchergeſtalt einer Seits den
Geiſt der Betteley zu erſticken ſuchen, ander Seits aber unſre
wahren Armen verſorgen? Was hilft es, daß wir ſtrenge ſind,
keinen ſuͤr Arm erkennen, der es nicht wuͤrklich iſt, keinem
andern Zeugniß als dem Zeugniſſe unſer Augen trauen, und
uns alle Jahr zweymal zur Ader laſſen, damit unſer Herr
Chirurgus die Verungluͤckten umſonſt curiren moͤge: wenn
andre Kirchſpiele nicht ein gleiches thun? wenn dieſe alles
was nur geht und kommt zur Heuer einnehmen, und ihr aus-

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[310/0328] Jeder zahle ſeine Zeche. Muͤßte in Frankreich jedes Kirchſpiel ſeine Fuͤndlinge un- terhalten: ſo wuͤrde eine Nachbarin auf die andre genau ach- ten; der Schulze im Dorfe wuͤrde ſeine Angeber uͤberall hal- ten, und manche arme Hure, die ihr Kind auf die allgemeine Landesbarmherzigkeit ausſetzt, in Zeiten genaͤhrt, unterſtuͤtzt, und mit der Halbſcheid desjenigen, was ſie der gemeinen An- ſtalt koſtet, bey muͤtterlichen Geſinnungen erhalten werden. Eben das laͤßt ſich von den Armen und Ungluͤcklichen ſagen, die auf Koſten einer gemeinen Anſtalt ihre Verſorgung finden. Der Pfarrer, um ihnen ſein Mitleid zu bezeugen, und ſich des ungeſtuͤmen Bettlens zu erwehren, giebt ihnen das Zeug- niß der Duͤrftigkeit aus guten Herzen. Der Vogt denkt; unſer Herr Paſtor wird es wiſſen, und hierauf bezeugt er al- les der Wahrheit gemaͤß; die Kirchſpielsvorſteher ſchreiben ihren Namen unbedenklich darunter, weil es nicht unmittel- bar auf ihre Rechnung geht; und ſo laͤuft alles der gemeinen Zeche zu, wozu hernach manches Kirchſpiel ein Stuͤckfaß lie- fern muß, was ſeine Durſtigen hoͤchſtens mit einen Anker erquicken koͤnnte. Was hilft es, ſagte neulich ein Bauer zu mir, daß wir nach der Verordnung unſre Arme ernaͤhren, ihre Kinder zur zeitigen Arbeit gewehnen, keinem fremden Bettler in unſre Nebenhaͤuſer aufnehmen; und ſolchergeſtalt einer Seits den Geiſt der Betteley zu erſticken ſuchen, ander Seits aber unſre wahren Armen verſorgen? Was hilft es, daß wir ſtrenge ſind, keinen ſuͤr Arm erkennen, der es nicht wuͤrklich iſt, keinem andern Zeugniß als dem Zeugniſſe unſer Augen trauen, und uns alle Jahr zweymal zur Ader laſſen, damit unſer Herr Chirurgus die Verungluͤckten umſonſt curiren moͤge: wenn andre Kirchſpiele nicht ein gleiches thun? wenn dieſe alles was nur geht und kommt zur Heuer einnehmen, und ihr aus- gehun-

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/328>, abgerufen am 24.11.2024.