Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.Eine lehrreiche Geschichte. gnädigen Herrschaft ein Fuder Weins aus dem Rheingau zuholen, oder ihr den Heerwagen bis auf die ronkalischen Ge- filde zu fahren. Denn wir waren durch jene öffentliche Ur- kunde sicher, daß alles dasjenige, was einer über die durch- gängig gleiche Pflicht leistete, in Ewigkeit eine Gefälligkeit bleiben würde. Und wer von uns wollte sich auch noch we- gern, einen so braven Herrn als unser alter Gutsherr ist, nicht alles aufzuopfern was in seinem Vermögen wäre, wenn es ohne Folge geschehen könnte? Allein seytdem man angefan- gen hat lediglich darauf zu sehen, was der Gutsherr bey je- dem hergebracht hat; seytdem unsere Pflichten nicht mehr hin- terin Altar in unser Bauerkirche, sondern in Büchern beschrie- ben stehen, welche vor hundert Jahren niemand gekannt hat; seit dieser Zeit, sage ich euch, hat sich das Unglück über uns arme Hofhörige Leute wie eine Flut ausgebreitet. Wir dür- fen unserm Gutsherrn, so gern wir auch wollten, nichts zu Gefallen thun; wir können seine Gnade durch unsern besten Willen nicht verdienen; wir haben dagegen von ihnen auch keine zu hoffen; und so wird die natürliche Bewegung der Erkenntlichkeit in uns erstickt; wir müssen alle Augenblick grobe Tölpel heissen, und sind es vielleicht auch aus Noth- wendigkeit, weil wir kein Ey bringen können, was nicht leicht angeschrieben wird. Es ist also auch nicht rathsam, daß eure Tochter dem jungen Herrn einen Kuß verstatte. Denn wenn derselbe auch nicht angeschrieben und in Gegenwart einiger Zeugen gegeben wird: so haben die verwünschten Rechtsge- lehrten einen Eid erfunden, womit sie uns armen Leuten gleich auf den Leib fallen. Das Mädgen kan den empfangenen Kuß nicht abschweren; und dann heißt es, der Gutsherr ist im Besitz; a) und Besitz entscheidet jetzt alles; da doch ehedem weder a) Der Besitz ist immer das arme elende Nothmittel, worauf die römischen Rechtsgelehrten verfallen, wenn sie sich um die vaterländischen Rechte nicht bekümmern; es ist aber Mösers patr. Phantas. II. Th. J i
Eine lehrreiche Geſchichte. gnaͤdigen Herrſchaft ein Fuder Weins aus dem Rheingau zuholen, oder ihr den Heerwagen bis auf die ronkaliſchen Ge- filde zu fahren. Denn wir waren durch jene oͤffentliche Ur- kunde ſicher, daß alles dasjenige, was einer uͤber die durch- gaͤngig gleiche Pflicht leiſtete, in Ewigkeit eine Gefaͤlligkeit bleiben wuͤrde. Und wer von uns wollte ſich auch noch we- gern, einen ſo braven Herrn als unſer alter Gutsherr iſt, nicht alles aufzuopfern was in ſeinem Vermoͤgen waͤre, wenn es ohne Folge geſchehen koͤnnte? Allein ſeytdem man angefan- gen hat lediglich darauf zu ſehen, was der Gutsherr bey je- dem hergebracht hat; ſeytdem unſere Pflichten nicht mehr hin- terin Altar in unſer Bauerkirche, ſondern in Buͤchern beſchrie- ben ſtehen, welche vor hundert Jahren niemand gekannt hat; ſeit dieſer Zeit, ſage ich euch, hat ſich das Ungluͤck uͤber uns arme Hofhoͤrige Leute wie eine Flut ausgebreitet. Wir duͤr- fen unſerm Gutsherrn, ſo gern wir auch wollten, nichts zu Gefallen thun; wir koͤnnen ſeine Gnade durch unſern beſten Willen nicht verdienen; wir haben dagegen von ihnen auch keine zu hoffen; und ſo wird die natuͤrliche Bewegung der Erkenntlichkeit in uns erſtickt; wir muͤſſen alle Augenblick grobe Toͤlpel heiſſen, und ſind es vielleicht auch aus Noth- wendigkeit, weil wir kein Ey bringen koͤnnen, was nicht leicht angeſchrieben wird. Es iſt alſo auch nicht rathſam, daß eure Tochter dem jungen Herrn einen Kuß verſtatte. Denn wenn derſelbe auch nicht angeſchrieben und in Gegenwart einiger Zeugen gegeben wird: ſo haben die verwuͤnſchten Rechtsge- lehrten einen Eid erfunden, womit ſie uns armen Leuten gleich auf den Leib fallen. Das Maͤdgen kan den empfangenen Kuß nicht abſchweren; und dann heißt es, der Gutsherr iſt im Beſitz; a) und Beſitz entſcheidet jetzt alles; da doch ehedem weder a) Der Beſitz iſt immer das arme elende Nothmittel, worauf die roͤmiſchen Rechtsgelehrten verfallen, wenn ſie ſich um die vaterlaͤndiſchen Rechte nicht bekuͤmmern; es iſt aber Möſers patr. Phantaſ. II. Th. J i
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Eine lehrreiche Geſchichte.
gnaͤdigen Herrſchaft ein Fuder Weins aus dem Rheingau zu
holen, oder ihr den Heerwagen bis auf die ronkaliſchen Ge-
filde zu fahren. Denn wir waren durch jene oͤffentliche Ur-
kunde ſicher, daß alles dasjenige, was einer uͤber die durch-
gaͤngig gleiche Pflicht leiſtete, in Ewigkeit eine Gefaͤlligkeit
bleiben wuͤrde. Und wer von uns wollte ſich auch noch we-
gern, einen ſo braven Herrn als unſer alter Gutsherr iſt, nicht
alles aufzuopfern was in ſeinem Vermoͤgen waͤre, wenn es
ohne Folge geſchehen koͤnnte? Allein ſeytdem man angefan-
gen hat lediglich darauf zu ſehen, was der Gutsherr bey je-
dem hergebracht hat; ſeytdem unſere Pflichten nicht mehr hin-
terin Altar in unſer Bauerkirche, ſondern in Buͤchern beſchrie-
ben ſtehen, welche vor hundert Jahren niemand gekannt hat;
ſeit dieſer Zeit, ſage ich euch, hat ſich das Ungluͤck uͤber uns
arme Hofhoͤrige Leute wie eine Flut ausgebreitet. Wir duͤr-
fen unſerm Gutsherrn, ſo gern wir auch wollten, nichts zu
Gefallen thun; wir koͤnnen ſeine Gnade durch unſern beſten
Willen nicht verdienen; wir haben dagegen von ihnen auch
keine zu hoffen; und ſo wird die natuͤrliche Bewegung der
Erkenntlichkeit in uns erſtickt; wir muͤſſen alle Augenblick
grobe Toͤlpel heiſſen, und ſind es vielleicht auch aus Noth-
wendigkeit, weil wir kein Ey bringen koͤnnen, was nicht leicht
angeſchrieben wird. Es iſt alſo auch nicht rathſam, daß eure
Tochter dem jungen Herrn einen Kuß verſtatte. Denn wenn
derſelbe auch nicht angeſchrieben und in Gegenwart einiger
Zeugen gegeben wird: ſo haben die verwuͤnſchten Rechtsge-
lehrten einen Eid erfunden, womit ſie uns armen Leuten gleich
auf den Leib fallen. Das Maͤdgen kan den empfangenen Kuß
nicht abſchweren; und dann heißt es, der Gutsherr iſt im
Beſitz; a) und Beſitz entſcheidet jetzt alles; da doch ehedem
weder
a) Der Beſitz iſt immer das arme elende Nothmittel, worauf
die roͤmiſchen Rechtsgelehrten verfallen, wenn ſie ſich um
die vaterlaͤndiſchen Rechte nicht bekuͤmmern; es iſt aber
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