Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

war wissenschaftlich wenig thätig; daher denn auch die Zahl
der Schriften über philosophisches Staatsrecht aus der ganzen
Zeit des Mittelalters eine gar geringe ist. Dennoch fehlt es
nicht ganz an Darstellung des Staatsgedankens; ja sie zerfallen
sogar in mehrere wohl zu unterscheidende Abtheilungen.

Einmal nämlich begab sich, daß die eben angedeutete christ-
liche Lebensansicht gerade von den Gebildeten häufig nicht ge-
theilt wurde, indem diese das geringe Maß ihres Wissens aus
den Schriften der antiken Völker schöpften, damit aber auch eine
heidnische Lebensphilosophie einsaugten. So entstanden zwei im
Grunde verschiedene Behandlungen der allgemeinen Fragen über
den Staat. Die eine war der richtige Ausdruck der allgemeinen
Volksansicht, also eine christlich theokratische; die andere dagegen
schloß sich an die Philosophie der Alten, namentlich an die
aristotelische, soweit sie dieselbe verstand, an. Letztere war zwar
eine Pflanze aus anderem Himmelsstriche und hatte nur ein
kränkliches Leben, da sie des gesunden Bodens einer lebendigen
Volksanschauung entbehrte; allein sie erschien leicht als die vor-
nehmere, weil die gelehrte. Auf die Wirklichkeit freilich hatte
sie nicht den mindesten Einfluß.

Ein anderer Unterschied bestand darin, daß innerhalb der
christlichen Staatsauffassung wieder ein scharfer Zwiespalt war.
Wie schon im Leben Streit zwischen den Kaisern und den
Päpsten, den Welfen und den Ghibellinen um die Herrschaft
war; und wie hier einerseits für den Papst, als den geistlichen
Statthalter Gottes auf Erden, das Recht der Oberherrschaft
auch in weltlichen Angelegenheiten verlangt, auf der andern
Seite für den Kaiser, als den ebenfalls gotteingesetzten Träger
des weltlichen Schwertes, Unabhängigkeit in den Dingen dieser
Erde gefordert ward: so fanden beide Ansichten ihre Vertretung
auch in Schriften. Es gab ein welfisches und ein ghibel-
linisches philosophisches Staatsrecht.

war wiſſenſchaftlich wenig thätig; daher denn auch die Zahl
der Schriften über philoſophiſches Staatsrecht aus der ganzen
Zeit des Mittelalters eine gar geringe iſt. Dennoch fehlt es
nicht ganz an Darſtellung des Staatsgedankens; ja ſie zerfallen
ſogar in mehrere wohl zu unterſcheidende Abtheilungen.

Einmal nämlich begab ſich, daß die eben angedeutete chriſt-
liche Lebensanſicht gerade von den Gebildeten häufig nicht ge-
theilt wurde, indem dieſe das geringe Maß ihres Wiſſens aus
den Schriften der antiken Völker ſchöpften, damit aber auch eine
heidniſche Lebensphiloſophie einſaugten. So entſtanden zwei im
Grunde verſchiedene Behandlungen der allgemeinen Fragen über
den Staat. Die eine war der richtige Ausdruck der allgemeinen
Volksanſicht, alſo eine chriſtlich theokratiſche; die andere dagegen
ſchloß ſich an die Philoſophie der Alten, namentlich an die
ariſtoteliſche, ſoweit ſie dieſelbe verſtand, an. Letztere war zwar
eine Pflanze aus anderem Himmelsſtriche und hatte nur ein
kränkliches Leben, da ſie des geſunden Bodens einer lebendigen
Volksanſchauung entbehrte; allein ſie erſchien leicht als die vor-
nehmere, weil die gelehrte. Auf die Wirklichkeit freilich hatte
ſie nicht den mindeſten Einfluß.

Ein anderer Unterſchied beſtand darin, daß innerhalb der
chriſtlichen Staatsauffaſſung wieder ein ſcharfer Zwieſpalt war.
Wie ſchon im Leben Streit zwiſchen den Kaiſern und den
Päpſten, den Welfen und den Ghibellinen um die Herrſchaft
war; und wie hier einerſeits für den Papſt, als den geiſtlichen
Statthalter Gottes auf Erden, das Recht der Oberherrſchaft
auch in weltlichen Angelegenheiten verlangt, auf der andern
Seite für den Kaiſer, als den ebenfalls gotteingeſetzten Träger
des weltlichen Schwertes, Unabhängigkeit in den Dingen dieſer
Erde gefordert ward: ſo fanden beide Anſichten ihre Vertretung
auch in Schriften. Es gab ein welfiſches und ein ghibel-
liniſches philoſophiſches Staatsrecht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0192" n="178"/>
war wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich wenig thätig; daher denn auch die Zahl<lb/>
der Schriften über philo&#x017F;ophi&#x017F;ches Staatsrecht aus der ganzen<lb/>
Zeit des Mittelalters eine gar geringe i&#x017F;t. Dennoch fehlt es<lb/>
nicht ganz an Dar&#x017F;tellung des Staatsgedankens; ja &#x017F;ie zerfallen<lb/>
&#x017F;ogar in mehrere wohl zu unter&#x017F;cheidende Abtheilungen.</p><lb/>
                  <p>Einmal nämlich begab &#x017F;ich, daß die eben angedeutete chri&#x017F;t-<lb/>
liche Lebensan&#x017F;icht gerade von den Gebildeten häufig nicht ge-<lb/>
theilt wurde, indem die&#x017F;e das geringe Maß ihres Wi&#x017F;&#x017F;ens aus<lb/>
den Schriften der antiken Völker &#x017F;chöpften, damit aber auch eine<lb/>
heidni&#x017F;che Lebensphilo&#x017F;ophie ein&#x017F;augten. So ent&#x017F;tanden zwei im<lb/>
Grunde ver&#x017F;chiedene Behandlungen der allgemeinen Fragen über<lb/>
den Staat. Die eine war der richtige Ausdruck der allgemeinen<lb/>
Volksan&#x017F;icht, al&#x017F;o eine chri&#x017F;tlich theokrati&#x017F;che; die andere dagegen<lb/>
&#x017F;chloß &#x017F;ich an die Philo&#x017F;ophie der Alten, namentlich an die<lb/>
ari&#x017F;toteli&#x017F;che, &#x017F;oweit &#x017F;ie die&#x017F;elbe ver&#x017F;tand, an. Letztere war zwar<lb/>
eine Pflanze aus anderem Himmels&#x017F;triche und hatte nur ein<lb/>
kränkliches Leben, da &#x017F;ie des ge&#x017F;unden Bodens einer lebendigen<lb/>
Volksan&#x017F;chauung entbehrte; allein &#x017F;ie er&#x017F;chien leicht als die vor-<lb/>
nehmere, weil die gelehrte. Auf die Wirklichkeit freilich hatte<lb/>
&#x017F;ie nicht den minde&#x017F;ten Einfluß.</p><lb/>
                  <p>Ein anderer Unter&#x017F;chied be&#x017F;tand darin, daß innerhalb der<lb/>
chri&#x017F;tlichen Staatsauffa&#x017F;&#x017F;ung wieder ein &#x017F;charfer Zwie&#x017F;palt war.<lb/>
Wie &#x017F;chon im Leben Streit zwi&#x017F;chen den Kai&#x017F;ern und den<lb/>
Päp&#x017F;ten, den Welfen und den Ghibellinen um die Herr&#x017F;chaft<lb/>
war; und wie hier einer&#x017F;eits für den Pap&#x017F;t, als den gei&#x017F;tlichen<lb/>
Statthalter Gottes auf Erden, das Recht der Oberherr&#x017F;chaft<lb/>
auch in weltlichen Angelegenheiten verlangt, auf der andern<lb/>
Seite für den Kai&#x017F;er, als den ebenfalls gotteinge&#x017F;etzten Träger<lb/>
des weltlichen Schwertes, Unabhängigkeit in den Dingen die&#x017F;er<lb/>
Erde gefordert ward: &#x017F;o fanden beide An&#x017F;ichten ihre Vertretung<lb/>
auch in Schriften. Es gab ein welfi&#x017F;ches und ein ghibel-<lb/>
lini&#x017F;ches philo&#x017F;ophi&#x017F;ches Staatsrecht.</p><lb/>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0192] war wiſſenſchaftlich wenig thätig; daher denn auch die Zahl der Schriften über philoſophiſches Staatsrecht aus der ganzen Zeit des Mittelalters eine gar geringe iſt. Dennoch fehlt es nicht ganz an Darſtellung des Staatsgedankens; ja ſie zerfallen ſogar in mehrere wohl zu unterſcheidende Abtheilungen. Einmal nämlich begab ſich, daß die eben angedeutete chriſt- liche Lebensanſicht gerade von den Gebildeten häufig nicht ge- theilt wurde, indem dieſe das geringe Maß ihres Wiſſens aus den Schriften der antiken Völker ſchöpften, damit aber auch eine heidniſche Lebensphiloſophie einſaugten. So entſtanden zwei im Grunde verſchiedene Behandlungen der allgemeinen Fragen über den Staat. Die eine war der richtige Ausdruck der allgemeinen Volksanſicht, alſo eine chriſtlich theokratiſche; die andere dagegen ſchloß ſich an die Philoſophie der Alten, namentlich an die ariſtoteliſche, ſoweit ſie dieſelbe verſtand, an. Letztere war zwar eine Pflanze aus anderem Himmelsſtriche und hatte nur ein kränkliches Leben, da ſie des geſunden Bodens einer lebendigen Volksanſchauung entbehrte; allein ſie erſchien leicht als die vor- nehmere, weil die gelehrte. Auf die Wirklichkeit freilich hatte ſie nicht den mindeſten Einfluß. Ein anderer Unterſchied beſtand darin, daß innerhalb der chriſtlichen Staatsauffaſſung wieder ein ſcharfer Zwieſpalt war. Wie ſchon im Leben Streit zwiſchen den Kaiſern und den Päpſten, den Welfen und den Ghibellinen um die Herrſchaft war; und wie hier einerſeits für den Papſt, als den geiſtlichen Statthalter Gottes auf Erden, das Recht der Oberherrſchaft auch in weltlichen Angelegenheiten verlangt, auf der andern Seite für den Kaiſer, als den ebenfalls gotteingeſetzten Träger des weltlichen Schwertes, Unabhängigkeit in den Dingen dieſer Erde gefordert ward: ſo fanden beide Anſichten ihre Vertretung auch in Schriften. Es gab ein welfiſches und ein ghibel- liniſches philoſophiſches Staatsrecht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/192
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/192>, abgerufen am 23.11.2024.