Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.Eine dritte Quelle der Mißachtung, und vielleicht die reichlichste derselben, ist die große Meinungsverschiedenheit der Schriftsteller über philosophisches Staatsrecht. Es wird einer Lehre jede Beachtung verweigert, über deren Inhalt ihre eigenen Bearbeiter im größten Widerspruche seien. Wem unter den Streitenden oder wenigstens Abweichenden denn gefolgt werden könne und solle? Daß man seine Wahl zu treffen hat unter den verschiedenen Auffassungen, ist allerdings richtig; ebenso kann nicht geläugnet werden, daß gar vieles Unrichtige und selbst gründlich Verkehrte über philosophisches Staatsrecht geschrieben ist. Allein einen Grund gegen die Wissenschaft an sich und gegen ihren richtigen Gebrauch kann diese Verschiedenartigkeit und theilweise Unrichtigkeit nicht abgeben. Der verständige Leser hat das Wahre aufzufinden; und er kann es auch. Wenn aber gedankenlose und nur flüchtig mit dem Gegenstande sich Beschäftigende sich nicht zu helfen wissen, so ist dies nicht mehr und nicht weniger, als in jeder allgemeinen Wissen- schaft geschieht. -- Endlich soll nicht verhehlt werden, daß viertens, die meisten Systeme des philosophischen Staatsrechts insoferne eigene Schuld an einem gerechten Tadel tragen, als sie die Möglichkeit einer verschiedenen vernünftigen Staatsauffassung nicht zugeben. Hierdurch werden sie, so richtig sie die einzelnen von ihnen gewählten Staatsgedanken bearbeiten mögen, einseitig und beziehungsweise unrichtig. Doch ist hier nicht schwer zu helfen. Es braucht blos die fälschlich für unbedingt wahr ausgegebene Lehre als eine nur relativ richtige erkannt und gebraucht zu werden. 2) Ein zum Mindesten unrichtiger Ausdruck ist es übrigens, wenn Schmitthenner, Zwölf Bücher, Bd. III, S. 12 fg., dem philosophischen Staatsrechte die Bedeutung beilegt, eine "sittliche" Beurtheilung des con- creten Staates zu liefern. Wenn Recht und Sittlichkeit, wie doch ohne Zweifel sein muß, in der Wissenschaft getrennt werden, und wenn das Staatsrecht die Grundsätze für die rechtliche, die Staatsmoral die Grundsätze für die sittliche Seite des Staatslebens liefert: so ist klar, daß das erstere nicht zu einem Urtheile über Fragen des letzteren bestimmt und befugt ist. Selbst angenommen, was hier dahin gestellt bleiben soll, daß der Staat vorzugsweise eine "ethische" Anstalt sei, so muß doch das engere rechtliche Gebiet immer nach seinen eigenen Principien aufgefaßt werden. Damit wohl vereinbar ist die Anstellung einer sittlichen Beurtheilung; nur muß diese, um ihrer eigenen Richtigkeit willen und damit der Rechtsordnung nicht Gewalt geschehe durch Anwendung eines fremdartigen Maaßstabes, auf ihrer eigenen Grundlage ruhen. 3) Wenn sich Napoleon darüber beklagte, daß Frankreich durch die "Ideologen" zu Grunde gerichtet worden sei, so ist dies nur sehr bedingt richtig, und beweist in jedem Falle nichts gegen die ächte Wissenschaft. Allerdings ist in keinem andern Lande der Welt eine so gründlich verkehrte Eine dritte Quelle der Mißachtung, und vielleicht die reichlichſte derſelben, iſt die große Meinungsverſchiedenheit der Schriftſteller über philoſophiſches Staatsrecht. Es wird einer Lehre jede Beachtung verweigert, über deren Inhalt ihre eigenen Bearbeiter im größten Widerſpruche ſeien. Wem unter den Streitenden oder wenigſtens Abweichenden denn gefolgt werden könne und ſolle? Daß man ſeine Wahl zu treffen hat unter den verſchiedenen Auffaſſungen, iſt allerdings richtig; ebenſo kann nicht geläugnet werden, daß gar vieles Unrichtige und ſelbſt gründlich Verkehrte über philoſophiſches Staatsrecht geſchrieben iſt. Allein einen Grund gegen die Wiſſenſchaft an ſich und gegen ihren richtigen Gebrauch kann dieſe Verſchiedenartigkeit und theilweiſe Unrichtigkeit nicht abgeben. Der verſtändige Leſer hat das Wahre aufzufinden; und er kann es auch. Wenn aber gedankenloſe und nur flüchtig mit dem Gegenſtande ſich Beſchäftigende ſich nicht zu helfen wiſſen, ſo iſt dies nicht mehr und nicht weniger, als in jeder allgemeinen Wiſſen- ſchaft geſchieht. — Endlich ſoll nicht verhehlt werden, daß viertens, die meiſten Syſteme des philoſophiſchen Staatsrechts inſoferne eigene Schuld an einem gerechten Tadel tragen, als ſie die Möglichkeit einer verſchiedenen vernünftigen Staatsauffaſſung nicht zugeben. Hierdurch werden ſie, ſo richtig ſie die einzelnen von ihnen gewählten Staatsgedanken bearbeiten mögen, einſeitig und beziehungsweiſe unrichtig. Doch iſt hier nicht ſchwer zu helfen. Es braucht blos die fälſchlich für unbedingt wahr ausgegebene Lehre als eine nur relativ richtige erkannt und gebraucht zu werden. 2) Ein zum Mindeſten unrichtiger Ausdruck iſt es übrigens, wenn Schmitthenner, Zwölf Bücher, Bd. III, S. 12 fg., dem philoſophiſchen Staatsrechte die Bedeutung beilegt, eine „ſittliche“ Beurtheilung des con- creten Staates zu liefern. Wenn Recht und Sittlichkeit, wie doch ohne Zweifel ſein muß, in der Wiſſenſchaft getrennt werden, und wenn das Staatsrecht die Grundſätze für die rechtliche, die Staatsmoral die Grundſätze für die ſittliche Seite des Staatslebens liefert: ſo iſt klar, daß das erſtere nicht zu einem Urtheile über Fragen des letzteren beſtimmt und befugt iſt. Selbſt angenommen, was hier dahin geſtellt bleiben ſoll, daß der Staat vorzugsweiſe eine „ethiſche“ Anſtalt ſei, ſo muß doch das engere rechtliche Gebiet immer nach ſeinen eigenen Principien aufgefaßt werden. Damit wohl vereinbar iſt die Anſtellung einer ſittlichen Beurtheilung; nur muß dieſe, um ihrer eigenen Richtigkeit willen und damit der Rechtsordnung nicht Gewalt geſchehe durch Anwendung eines fremdartigen Maaßſtabes, auf ihrer eigenen Grundlage ruhen. 3) Wenn ſich Napoleon darüber beklagte, daß Frankreich durch die „Ideologen“ zu Grunde gerichtet worden ſei, ſo iſt dies nur ſehr bedingt richtig, und beweiſt in jedem Falle nichts gegen die ächte Wiſſenſchaft. 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¹⁾ Eine dritte Quelle der Mißachtung, und vielleicht die reichlichſte derſelben,
iſt die große Meinungsverſchiedenheit der Schriftſteller über philoſophiſches
Staatsrecht. Es wird einer Lehre jede Beachtung verweigert, über deren
Inhalt ihre eigenen Bearbeiter im größten Widerſpruche ſeien. Wem unter
den Streitenden oder wenigſtens Abweichenden denn gefolgt werden könne
und ſolle? Daß man ſeine Wahl zu treffen hat unter den verſchiedenen
Auffaſſungen, iſt allerdings richtig; ebenſo kann nicht geläugnet werden,
daß gar vieles Unrichtige und ſelbſt gründlich Verkehrte über philoſophiſches
Staatsrecht geſchrieben iſt. Allein einen Grund gegen die Wiſſenſchaft an
ſich und gegen ihren richtigen Gebrauch kann dieſe Verſchiedenartigkeit und
theilweiſe Unrichtigkeit nicht abgeben. Der verſtändige Leſer hat das Wahre
aufzufinden; und er kann es auch. Wenn aber gedankenloſe und nur
flüchtig mit dem Gegenſtande ſich Beſchäftigende ſich nicht zu helfen wiſſen,
ſo iſt dies nicht mehr und nicht weniger, als in jeder allgemeinen Wiſſen-
ſchaft geſchieht. — Endlich ſoll nicht verhehlt werden, daß viertens, die
meiſten Syſteme des philoſophiſchen Staatsrechts inſoferne eigene Schuld
an einem gerechten Tadel tragen, als ſie die Möglichkeit einer verſchiedenen
vernünftigen Staatsauffaſſung nicht zugeben. Hierdurch werden ſie, ſo richtig
ſie die einzelnen von ihnen gewählten Staatsgedanken bearbeiten mögen,
einſeitig und beziehungsweiſe unrichtig. Doch iſt hier nicht ſchwer zu helfen.
Es braucht blos die fälſchlich für unbedingt wahr ausgegebene Lehre als eine
nur relativ richtige erkannt und gebraucht zu werden.
²⁾ Ein zum Mindeſten unrichtiger Ausdruck iſt es übrigens, wenn
Schmitthenner, Zwölf Bücher, Bd. III, S. 12 fg., dem philoſophiſchen
Staatsrechte die Bedeutung beilegt, eine „ſittliche“ Beurtheilung des con-
creten Staates zu liefern. Wenn Recht und Sittlichkeit, wie doch ohne
Zweifel ſein muß, in der Wiſſenſchaft getrennt werden, und wenn das
Staatsrecht die Grundſätze für die rechtliche, die Staatsmoral die Grundſätze
für die ſittliche Seite des Staatslebens liefert: ſo iſt klar, daß das erſtere
nicht zu einem Urtheile über Fragen des letzteren beſtimmt und befugt iſt.
Selbſt angenommen, was hier dahin geſtellt bleiben ſoll, daß der Staat
vorzugsweiſe eine „ethiſche“ Anſtalt ſei, ſo muß doch das engere rechtliche
Gebiet immer nach ſeinen eigenen Principien aufgefaßt werden. Damit
wohl vereinbar iſt die Anſtellung einer ſittlichen Beurtheilung; nur muß
dieſe, um ihrer eigenen Richtigkeit willen und damit der Rechtsordnung
nicht Gewalt geſchehe durch Anwendung eines fremdartigen Maaßſtabes,
auf ihrer eigenen Grundlage ruhen.
³⁾ Wenn ſich Napoleon darüber beklagte, daß Frankreich durch die
„Ideologen“ zu Grunde gerichtet worden ſei, ſo iſt dies nur ſehr bedingt
richtig, und beweiſt in jedem Falle nichts gegen die ächte Wiſſenſchaft.
Allerdings iſt in keinem andern Lande der Welt eine ſo gründlich verkehrte
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