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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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1) Wenn freilich die Natur des Menschen unvollständig, wo nicht gar
ganz falsch, aufgefaßt wird, ergeben sich auch andere Lebensbestimmungen
als die angegebenen; allein eben ihre Einseitigkeit ist der unmittelbare Beweis
ihrer Unrichtigkeit. Wenn z. B. der Mensch lediglich nur in seinem Ver-
hältnisse zur Gottheit und etwa als auf einer Vorbereitungsstufe zu einem
anderen Leben befindlich dargestellt wird, wird ganz übersehen, daß er außer-
dem auch noch zu mitlebenden Menschen in Beziehungen steht und sein
Leben auf dieser Erde einen Sinn und Zweck haben muß, daß dieses einen
unmittelbaren Inhalt hat. Oder aber ist es ebenfalls falsche Philosophie,
wenn der Lebenszweck des Menschen lediglich im Glücke oder Genusse gesucht
wird. Einmal ist Glück nur das Gefühl der Erreichung eines bestimmten
Zustandes, also nur eine Folge und nicht die Sache selbst, und zwar eine
sich selbst ergebende und somit nicht erst besonders zu erstrebende Folge.
Zweitens aber kann möglicherweise die Erreichung eines Genusses mit der
Erstrebung eines nothwendigen, vielleicht sehr hochstehenden, Lebenszweckes
im Widerspruche sein, wenn nämlich dieser Genuß die Frucht eines Zustandes
ist, der durch die Unterlassung einer Pflicht oder einer Anstrengung gewonnen
würde. Der Mensch soll und darf genießen; aber nur insoferne er seine
Lebensaufgaben mehr oder weniger vollständig erreicht.
2) Die Gesetze für den in seinem besonderen Lebenskreise sich bewe-
genden Menschen sind von der Wissenschaft allseitig bearbeitet, und auch,
soweit sie sich dazu eignen, durch äußerliche Auctorität festgestellt. So die
Religionslehren für Glauben und Handeln, theils als philosophisches System,
theils als positives göttliches Gebot. So die Sittenlehre; das Privatrecht
sowohl in seiner naturrechtlichen als in seiner positiven Begründung; endlich
die wirthschaftliche Klugheitslehre. Diese geordneten Nachweisungen des
Richtigen sind die Grundlagen eines vernünftigen menschlichen Lebens, allein
sie sind nicht die einzigen möglichen und nothwendigen Systeme von Auf-
klärungen und Vorschriften. Die verschiedenen Thätigkeiten des einzelnen
Menschen und ihre Erzeugnisse sind nämlich zwar berechtigt und unent-
behrlich; allein es darf nicht vergessen werden, daß sie blos den einzelnen
Menschen, höchstens wieder im Verhältnisse zum einzelnen Menschen, be-
trachten, somit keineswegs den ganzen Reichthum der Lebensgestaltungen
erschöpfen.
§ 3.
3. Die Familie.

Das egoistische, das heißt auf sich selbst bezogene, Leben
der Persönlichkeit ist ein nothwendiger und berechtigter Zustand,
da der Mensch zunächst an sich und für sich da ist. Aber der-

1) Wenn freilich die Natur des Menſchen unvollſtändig, wo nicht gar
ganz falſch, aufgefaßt wird, ergeben ſich auch andere Lebensbeſtimmungen
als die angegebenen; allein eben ihre Einſeitigkeit iſt der unmittelbare Beweis
ihrer Unrichtigkeit. Wenn z. B. der Menſch lediglich nur in ſeinem Ver-
hältniſſe zur Gottheit und etwa als auf einer Vorbereitungsſtufe zu einem
anderen Leben befindlich dargeſtellt wird, wird ganz überſehen, daß er außer-
dem auch noch zu mitlebenden Menſchen in Beziehungen ſteht und ſein
Leben auf dieſer Erde einen Sinn und Zweck haben muß, daß dieſes einen
unmittelbaren Inhalt hat. Oder aber iſt es ebenfalls falſche Philoſophie,
wenn der Lebenszweck des Menſchen lediglich im Glücke oder Genuſſe geſucht
wird. Einmal iſt Glück nur das Gefühl der Erreichung eines beſtimmten
Zuſtandes, alſo nur eine Folge und nicht die Sache ſelbſt, und zwar eine
ſich ſelbſt ergebende und ſomit nicht erſt beſonders zu erſtrebende Folge.
Zweitens aber kann möglicherweiſe die Erreichung eines Genuſſes mit der
Erſtrebung eines nothwendigen, vielleicht ſehr hochſtehenden, Lebenszweckes
im Widerſpruche ſein, wenn nämlich dieſer Genuß die Frucht eines Zuſtandes
iſt, der durch die Unterlaſſung einer Pflicht oder einer Anſtrengung gewonnen
würde. Der Menſch ſoll und darf genießen; aber nur inſoferne er ſeine
Lebensaufgaben mehr oder weniger vollſtändig erreicht.
2) Die Geſetze für den in ſeinem beſonderen Lebenskreiſe ſich bewe-
genden Menſchen ſind von der Wiſſenſchaft allſeitig bearbeitet, und auch,
ſoweit ſie ſich dazu eignen, durch äußerliche Auctorität feſtgeſtellt. So die
Religionslehren für Glauben und Handeln, theils als philoſophiſches Syſtem,
theils als poſitives göttliches Gebot. So die Sittenlehre; das Privatrecht
ſowohl in ſeiner naturrechtlichen als in ſeiner poſitiven Begründung; endlich
die wirthſchaftliche Klugheitslehre. Dieſe geordneten Nachweiſungen des
Richtigen ſind die Grundlagen eines vernünftigen menſchlichen Lebens, allein
ſie ſind nicht die einzigen möglichen und nothwendigen Syſteme von Auf-
klärungen und Vorſchriften. Die verſchiedenen Thätigkeiten des einzelnen
Menſchen und ihre Erzeugniſſe ſind nämlich zwar berechtigt und unent-
behrlich; allein es darf nicht vergeſſen werden, daß ſie blos den einzelnen
Menſchen, höchſtens wieder im Verhältniſſe zum einzelnen Menſchen, be-
trachten, ſomit keineswegs den ganzen Reichthum der Lebensgeſtaltungen
erſchöpfen.
§ 3.
3. Die Familie.

Das egoiſtiſche, das heißt auf ſich ſelbſt bezogene, Leben
der Perſönlichkeit iſt ein nothwendiger und berechtigter Zuſtand,
da der Menſch zunächſt an ſich und für ſich da iſt. Aber der-

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[10/0024] ¹⁾ Wenn freilich die Natur des Menſchen unvollſtändig, wo nicht gar ganz falſch, aufgefaßt wird, ergeben ſich auch andere Lebensbeſtimmungen als die angegebenen; allein eben ihre Einſeitigkeit iſt der unmittelbare Beweis ihrer Unrichtigkeit. Wenn z. B. der Menſch lediglich nur in ſeinem Ver- hältniſſe zur Gottheit und etwa als auf einer Vorbereitungsſtufe zu einem anderen Leben befindlich dargeſtellt wird, wird ganz überſehen, daß er außer- dem auch noch zu mitlebenden Menſchen in Beziehungen ſteht und ſein Leben auf dieſer Erde einen Sinn und Zweck haben muß, daß dieſes einen unmittelbaren Inhalt hat. Oder aber iſt es ebenfalls falſche Philoſophie, wenn der Lebenszweck des Menſchen lediglich im Glücke oder Genuſſe geſucht wird. Einmal iſt Glück nur das Gefühl der Erreichung eines beſtimmten Zuſtandes, alſo nur eine Folge und nicht die Sache ſelbſt, und zwar eine ſich ſelbſt ergebende und ſomit nicht erſt beſonders zu erſtrebende Folge. Zweitens aber kann möglicherweiſe die Erreichung eines Genuſſes mit der Erſtrebung eines nothwendigen, vielleicht ſehr hochſtehenden, Lebenszweckes im Widerſpruche ſein, wenn nämlich dieſer Genuß die Frucht eines Zuſtandes iſt, der durch die Unterlaſſung einer Pflicht oder einer Anſtrengung gewonnen würde. Der Menſch ſoll und darf genießen; aber nur inſoferne er ſeine Lebensaufgaben mehr oder weniger vollſtändig erreicht. ²⁾ Die Geſetze für den in ſeinem beſonderen Lebenskreiſe ſich bewe- genden Menſchen ſind von der Wiſſenſchaft allſeitig bearbeitet, und auch, ſoweit ſie ſich dazu eignen, durch äußerliche Auctorität feſtgeſtellt. So die Religionslehren für Glauben und Handeln, theils als philoſophiſches Syſtem, theils als poſitives göttliches Gebot. So die Sittenlehre; das Privatrecht ſowohl in ſeiner naturrechtlichen als in ſeiner poſitiven Begründung; endlich die wirthſchaftliche Klugheitslehre. Dieſe geordneten Nachweiſungen des Richtigen ſind die Grundlagen eines vernünftigen menſchlichen Lebens, allein ſie ſind nicht die einzigen möglichen und nothwendigen Syſteme von Auf- klärungen und Vorſchriften. Die verſchiedenen Thätigkeiten des einzelnen Menſchen und ihre Erzeugniſſe ſind nämlich zwar berechtigt und unent- behrlich; allein es darf nicht vergeſſen werden, daß ſie blos den einzelnen Menſchen, höchſtens wieder im Verhältniſſe zum einzelnen Menſchen, be- trachten, ſomit keineswegs den ganzen Reichthum der Lebensgeſtaltungen erſchöpfen. § 3. 3. Die Familie. Das egoiſtiſche, das heißt auf ſich ſelbſt bezogene, Leben der Perſönlichkeit iſt ein nothwendiger und berechtigter Zuſtand, da der Menſch zunächſt an ſich und für ſich da iſt. Aber der-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/24>, abgerufen am 21.11.2024.