Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

verkehre d. h. der Unabhängigkeit und der gleichen Berechtigung
derselben, die Forderung der Ordnung, von ihm civitas maxima
genannt, setzte, und dadurch, wenn auch zunächst noch kein
letztes stoffliches Ziel, so doch eine zwingende Beschränkung
und eine Form aufstellte. Unglücklich freilich war seine Methode,
nämlich eine Art von mathematischer Beweisführung. -- Diese
Lehre Wolf's hat sehr lange die Wissenschaft beherrscht, und ist
selbst jetzt noch vielfach benützt; doch nicht unmittelbar in seinem
eigenen Werke, sondern in der leichteren und geschmackvolleren,
auch durch die französische Sprache verbreiteteren Bearbeitung
des Schweizers Vattel.

Wenigstens für Deutschland wurde dann aber gegen das
Ende des 18. Jahrhunderts die Wolf'sche Schule verdrängt
durch Kant und die große Anzahl seiner Anhänger. Diese
neue Bearbeitung war jedoch für das Völkerrecht nur insoferne
eine Verbesserung, als eine schärfere Bestimmung des Rechts-
begriffes zu Grunde gelegt ward, und vor Allem die Ent-
wickelung in einer richtigern rechtswissenschaftlichen Weise vor
sich ging. Ein Rückschritt sogar hinter Wolf wurde in dem
wichtigen Punkte gemacht, daß man die besondere Eigenthüm-
lichkeit des Völkerlebens und die Nothwendigkeit einer Aufstellung
eigener rechtlicher Grundsätze für dasselbe nicht erkannte, sondern
einfach zu der Anwendung des natürlichen Privatrechtes auf die
Verhältnisse zwischen Staat und Staat zurückkehrte. Die innere
Falschheit dieser Auffassung trägt denn auch die Schuld, daß
die zahlreichen Schriften dieser Schule die Wissenschaft des
philosophischen Völkerrechtes nur wenig gefördert haben und
das Gefühl des Leeren, Erzwungenen und Unvollständigen
hinterlassen.

Erst in den letzten Jahren ist durch eine richtige Material-
kritik ein bedeutender weiterer Schritt geschehen 7). Durch den
älteren Gagern, Fallati, namentlich aber Kaltenborn

verkehre d. h. der Unabhängigkeit und der gleichen Berechtigung
derſelben, die Forderung der Ordnung, von ihm civitas maxima
genannt, ſetzte, und dadurch, wenn auch zunächſt noch kein
letztes ſtoffliches Ziel, ſo doch eine zwingende Beſchränkung
und eine Form aufſtellte. Unglücklich freilich war ſeine Methode,
nämlich eine Art von mathematiſcher Beweisführung. — Dieſe
Lehre Wolf’s hat ſehr lange die Wiſſenſchaft beherrſcht, und iſt
ſelbſt jetzt noch vielfach benützt; doch nicht unmittelbar in ſeinem
eigenen Werke, ſondern in der leichteren und geſchmackvolleren,
auch durch die franzöſiſche Sprache verbreiteteren Bearbeitung
des Schweizers Vattel.

Wenigſtens für Deutſchland wurde dann aber gegen das
Ende des 18. Jahrhunderts die Wolf’ſche Schule verdrängt
durch Kant und die große Anzahl ſeiner Anhänger. Dieſe
neue Bearbeitung war jedoch für das Völkerrecht nur inſoferne
eine Verbeſſerung, als eine ſchärfere Beſtimmung des Rechts-
begriffes zu Grunde gelegt ward, und vor Allem die Ent-
wickelung in einer richtigern rechtswiſſenſchaftlichen Weiſe vor
ſich ging. Ein Rückſchritt ſogar hinter Wolf wurde in dem
wichtigen Punkte gemacht, daß man die beſondere Eigenthüm-
lichkeit des Völkerlebens und die Nothwendigkeit einer Aufſtellung
eigener rechtlicher Grundſätze für daſſelbe nicht erkannte, ſondern
einfach zu der Anwendung des natürlichen Privatrechtes auf die
Verhältniſſe zwiſchen Staat und Staat zurückkehrte. Die innere
Falſchheit dieſer Auffaſſung trägt denn auch die Schuld, daß
die zahlreichen Schriften dieſer Schule die Wiſſenſchaft des
philoſophiſchen Völkerrechtes nur wenig gefördert haben und
das Gefühl des Leeren, Erzwungenen und Unvollſtändigen
hinterlaſſen.

Erſt in den letzten Jahren iſt durch eine richtige Material-
kritik ein bedeutender weiterer Schritt geſchehen 7). Durch den
älteren Gagern, Fallati, namentlich aber Kaltenborn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0424" n="410"/>
verkehre d. h. der Unabhängigkeit und der gleichen Berechtigung<lb/>
der&#x017F;elben, die Forderung der Ordnung, von ihm <hi rendition="#aq">civitas maxima</hi><lb/>
genannt, &#x017F;etzte, und dadurch, wenn auch zunäch&#x017F;t noch kein<lb/>
letztes &#x017F;toffliches Ziel, &#x017F;o doch eine zwingende Be&#x017F;chränkung<lb/>
und eine Form auf&#x017F;tellte. Unglücklich freilich war &#x017F;eine Methode,<lb/>
nämlich eine Art von mathemati&#x017F;cher Beweisführung. &#x2014; Die&#x017F;e<lb/>
Lehre Wolf&#x2019;s hat &#x017F;ehr lange die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft beherr&#x017F;cht, und i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t jetzt noch vielfach benützt; doch nicht unmittelbar in &#x017F;einem<lb/>
eigenen Werke, &#x017F;ondern in der leichteren und ge&#x017F;chmackvolleren,<lb/>
auch durch die franzö&#x017F;i&#x017F;che Sprache verbreiteteren Bearbeitung<lb/>
des Schweizers <hi rendition="#g">Vattel</hi>.</p><lb/>
                <p>Wenig&#x017F;tens für Deut&#x017F;chland wurde dann aber gegen das<lb/>
Ende des 18. Jahrhunderts die Wolf&#x2019;&#x017F;che Schule verdrängt<lb/>
durch <hi rendition="#g">Kant</hi> und die große Anzahl &#x017F;einer Anhänger. Die&#x017F;e<lb/>
neue Bearbeitung war jedoch für das Völkerrecht nur in&#x017F;oferne<lb/>
eine Verbe&#x017F;&#x017F;erung, als eine &#x017F;chärfere Be&#x017F;timmung des Rechts-<lb/>
begriffes zu Grunde gelegt ward, und vor Allem die Ent-<lb/>
wickelung in einer richtigern rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Wei&#x017F;e vor<lb/>
&#x017F;ich ging. Ein Rück&#x017F;chritt &#x017F;ogar hinter Wolf wurde in dem<lb/>
wichtigen Punkte gemacht, daß man die be&#x017F;ondere Eigenthüm-<lb/>
lichkeit des Völkerlebens und die Nothwendigkeit einer Auf&#x017F;tellung<lb/>
eigener rechtlicher Grund&#x017F;ätze für da&#x017F;&#x017F;elbe nicht erkannte, &#x017F;ondern<lb/>
einfach zu der Anwendung des natürlichen Privatrechtes auf die<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;e zwi&#x017F;chen Staat und Staat zurückkehrte. Die innere<lb/>
Fal&#x017F;chheit die&#x017F;er Auffa&#x017F;&#x017F;ung trägt denn auch die Schuld, daß<lb/>
die zahlreichen Schriften die&#x017F;er Schule die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft des<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Völkerrechtes nur wenig gefördert haben und<lb/>
das Gefühl des Leeren, Erzwungenen und Unvoll&#x017F;tändigen<lb/>
hinterla&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
                <p>Er&#x017F;t in den letzten Jahren i&#x017F;t durch eine richtige Material-<lb/>
kritik ein bedeutender weiterer Schritt ge&#x017F;chehen <hi rendition="#sup">7</hi>). Durch den<lb/>
älteren <hi rendition="#g">Gagern, Fallati</hi>, namentlich aber <hi rendition="#g">Kaltenborn</hi><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[410/0424] verkehre d. h. der Unabhängigkeit und der gleichen Berechtigung derſelben, die Forderung der Ordnung, von ihm civitas maxima genannt, ſetzte, und dadurch, wenn auch zunächſt noch kein letztes ſtoffliches Ziel, ſo doch eine zwingende Beſchränkung und eine Form aufſtellte. Unglücklich freilich war ſeine Methode, nämlich eine Art von mathematiſcher Beweisführung. — Dieſe Lehre Wolf’s hat ſehr lange die Wiſſenſchaft beherrſcht, und iſt ſelbſt jetzt noch vielfach benützt; doch nicht unmittelbar in ſeinem eigenen Werke, ſondern in der leichteren und geſchmackvolleren, auch durch die franzöſiſche Sprache verbreiteteren Bearbeitung des Schweizers Vattel. Wenigſtens für Deutſchland wurde dann aber gegen das Ende des 18. Jahrhunderts die Wolf’ſche Schule verdrängt durch Kant und die große Anzahl ſeiner Anhänger. Dieſe neue Bearbeitung war jedoch für das Völkerrecht nur inſoferne eine Verbeſſerung, als eine ſchärfere Beſtimmung des Rechts- begriffes zu Grunde gelegt ward, und vor Allem die Ent- wickelung in einer richtigern rechtswiſſenſchaftlichen Weiſe vor ſich ging. Ein Rückſchritt ſogar hinter Wolf wurde in dem wichtigen Punkte gemacht, daß man die beſondere Eigenthüm- lichkeit des Völkerlebens und die Nothwendigkeit einer Aufſtellung eigener rechtlicher Grundſätze für daſſelbe nicht erkannte, ſondern einfach zu der Anwendung des natürlichen Privatrechtes auf die Verhältniſſe zwiſchen Staat und Staat zurückkehrte. Die innere Falſchheit dieſer Auffaſſung trägt denn auch die Schuld, daß die zahlreichen Schriften dieſer Schule die Wiſſenſchaft des philoſophiſchen Völkerrechtes nur wenig gefördert haben und das Gefühl des Leeren, Erzwungenen und Unvollſtändigen hinterlaſſen. Erſt in den letzten Jahren iſt durch eine richtige Material- kritik ein bedeutender weiterer Schritt geſchehen 7). Durch den älteren Gagern, Fallati, namentlich aber Kaltenborn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/424
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/424>, abgerufen am 17.06.2024.