Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.die unbedingten Berechtigungen zu Volksversammlungen; ein der Einwir- kung des Staates ganz entzogenes Vereinsrecht; die absolute Verfassungs- widrigkeit eines Belagerungszustandes; Preßfreiheit, auch wenn sie zu ver- rätherischen Kundgebungen an einen Feind mißbraucht wird. 2) Mangel an physischer Gewalt ist z. B. vorhanden in den amerika- nischen Gliederstaaten, seitdem sie bevölkerter sind und große Städte in sich schließen. Dieser Mangel ist denn schuld an den nicht seltenen empörenden Fällen von Gewaltthätigkeiten des Pöbels, aber auch an der Anwendung des Lynchgesetzes; er besteht ferner selbst bei der Bundesregierung, wenn sie z. B. amtlich erklären mußte, die zur Verhinderung von völkerrechtswidrigen Freischaarenzügen nöthigen Mittel nicht zu besitzen. An Mangel an Gewalt kranken überhaupt Bundesregierungen häufig; ebenso die Regierungen in halbrevolutionirten Ländern. Mangel an Gewalt in den Händen des deutschen Kaisers hat das Reich zu Grunde gehen lassen. 3) Nicht zu verwechseln mit einer unzulässigen Ausgleichung von Recht und Macht ist die, allerdings zulässige und natürliche, Ausgleichung von Machtbestandtheilen. Außer der physischen Macht kann nämlich ein Staats- oberhaupt auch eine sittliche Macht besitzen, deren Anwendung die an sich nicht ausreichende äußerliche Gewalt ergänzt. So besteht z. B. für einen Theokraten die Möglichkeit geistliche Strafen, Kirchenbann, Interdict u. dgl. zu erkennen und damit einer ungenügenden militärischen Macht nachzuhelfen. Oder aber ist eine festbegründete und allgemeine Pietät gegen das Staats- oberhaupt ein nicht zu verachtendes Machtelement. Zwischen solcher gei- stigen Macht und einer physischen mag eine Verwechslung und Aus- gleichung stattfinden; und es kann vielleicht ein mit großer geistiger und nur schwacher physischer Macht ausgerüsteter Regent den Staatszweck voll- ständig zur Erfüllung bringen, während ein jedes sittlichen Einflusses be- raubtes Oberhaupt lediglich nur durch ein Uebermaß physischer Macht zu bestehen vermag. 4) Die vielen und scharfsinnigen Untersuchungen über das Wesen und den Zweck der Strafe, sowie über das Recht des Staates zur Androhung und Vollziehung von Strafen, welche seit Beccaria bei allen gesittigten Völkern angestellt worden sind, leiden an dem großen Mangel, daß sie nur das Verhältniß der Strafe zur Rechtsverletzung erörtern, nicht aber deren Dienlichkeit und erlaubte Anwendbarkeit zur Aufrechterhaltung der Staatsordnung überhaupt. Von diesem Standpunkte aus nimmt denn wohl die durch ein Strafsystem zu bewirkende Abschreckung von Ungehorsam einen ganz andern Charakter an, als derselben auf dem engeren Felde der Rechtsordnung gebührt. Mag es daher sein, daß sich die Abschreckungs- theorie als Mittel der Rechtsordnung nicht ganz vertheidigen läßt, so ist sie nicht denselben Einwänden ausgesetzt, wenn es sich um Besiegung des 39*
die unbedingten Berechtigungen zu Volksverſammlungen; ein der Einwir- kung des Staates ganz entzogenes Vereinsrecht; die abſolute Verfaſſungs- widrigkeit eines Belagerungszuſtandes; Preßfreiheit, auch wenn ſie zu ver- rätheriſchen Kundgebungen an einen Feind mißbraucht wird. 2) Mangel an phyſiſcher Gewalt iſt z. B. vorhanden in den amerika- niſchen Gliederſtaaten, ſeitdem ſie bevölkerter ſind und große Städte in ſich ſchließen. Dieſer Mangel iſt denn ſchuld an den nicht ſeltenen empörenden Fällen von Gewaltthätigkeiten des Pöbels, aber auch an der Anwendung des Lynchgeſetzes; er beſteht ferner ſelbſt bei der Bundesregierung, wenn ſie z. B. amtlich erklären mußte, die zur Verhinderung von völkerrechtswidrigen Freiſchaarenzügen nöthigen Mittel nicht zu beſitzen. An Mangel an Gewalt kranken überhaupt Bundesregierungen häufig; ebenſo die Regierungen in halbrevolutionirten Ländern. Mangel an Gewalt in den Händen des deutſchen Kaiſers hat das Reich zu Grunde gehen laſſen. 3) Nicht zu verwechſeln mit einer unzuläſſigen Ausgleichung von Recht und Macht iſt die, allerdings zuläſſige und natürliche, Ausgleichung von Machtbeſtandtheilen. Außer der phyſiſchen Macht kann nämlich ein Staats- oberhaupt auch eine ſittliche Macht beſitzen, deren Anwendung die an ſich nicht ausreichende äußerliche Gewalt ergänzt. So beſteht z. B. für einen Theokraten die Möglichkeit geiſtliche Strafen, Kirchenbann, Interdict u. dgl. zu erkennen und damit einer ungenügenden militäriſchen Macht nachzuhelfen. Oder aber iſt eine feſtbegründete und allgemeine Pietät gegen das Staats- oberhaupt ein nicht zu verachtendes Machtelement. Zwiſchen ſolcher gei- ſtigen Macht und einer phyſiſchen mag eine Verwechslung und Aus- gleichung ſtattfinden; und es kann vielleicht ein mit großer geiſtiger und nur ſchwacher phyſiſcher Macht ausgerüſteter Regent den Staatszweck voll- ſtändig zur Erfüllung bringen, während ein jedes ſittlichen Einfluſſes be- raubtes Oberhaupt lediglich nur durch ein Uebermaß phyſiſcher Macht zu beſtehen vermag. 4) Die vielen und ſcharfſinnigen Unterſuchungen über das Weſen und den Zweck der Strafe, ſowie über das Recht des Staates zur Androhung und Vollziehung von Strafen, welche ſeit Beccaria bei allen geſittigten Völkern angeſtellt worden ſind, leiden an dem großen Mangel, daß ſie nur das Verhältniß der Strafe zur Rechtsverletzung erörtern, nicht aber deren Dienlichkeit und erlaubte Anwendbarkeit zur Aufrechterhaltung der Staatsordnung überhaupt. Von dieſem Standpunkte aus nimmt denn wohl die durch ein Strafſyſtem zu bewirkende Abſchreckung von Ungehorſam einen ganz andern Charakter an, als derſelben auf dem engeren Felde der Rechtsordnung gebührt. Mag es daher ſein, daß ſich die Abſchreckungs- theorie als Mittel der Rechtsordnung nicht ganz vertheidigen läßt, ſo iſt ſie nicht denſelben Einwänden ausgeſetzt, wenn es ſich um Beſiegung des 39*
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¹⁾ die unbedingten Berechtigungen zu Volksverſammlungen; ein der Einwir-
kung des Staates ganz entzogenes Vereinsrecht; die abſolute Verfaſſungs-
widrigkeit eines Belagerungszuſtandes; Preßfreiheit, auch wenn ſie zu ver-
rätheriſchen Kundgebungen an einen Feind mißbraucht wird.
²⁾ Mangel an phyſiſcher Gewalt iſt z. B. vorhanden in den amerika-
niſchen Gliederſtaaten, ſeitdem ſie bevölkerter ſind und große Städte in ſich
ſchließen. Dieſer Mangel iſt denn ſchuld an den nicht ſeltenen empörenden
Fällen von Gewaltthätigkeiten des Pöbels, aber auch an der Anwendung
des Lynchgeſetzes; er beſteht ferner ſelbſt bei der Bundesregierung, wenn ſie
z. B. amtlich erklären mußte, die zur Verhinderung von völkerrechtswidrigen
Freiſchaarenzügen nöthigen Mittel nicht zu beſitzen. An Mangel an Gewalt
kranken überhaupt Bundesregierungen häufig; ebenſo die Regierungen in
halbrevolutionirten Ländern. Mangel an Gewalt in den Händen des deutſchen
Kaiſers hat das Reich zu Grunde gehen laſſen.
³⁾ Nicht zu verwechſeln mit einer unzuläſſigen Ausgleichung von Recht
und Macht iſt die, allerdings zuläſſige und natürliche, Ausgleichung von
Machtbeſtandtheilen. Außer der phyſiſchen Macht kann nämlich ein Staats-
oberhaupt auch eine ſittliche Macht beſitzen, deren Anwendung die an ſich
nicht ausreichende äußerliche Gewalt ergänzt. So beſteht z. B. für einen
Theokraten die Möglichkeit geiſtliche Strafen, Kirchenbann, Interdict u. dgl.
zu erkennen und damit einer ungenügenden militäriſchen Macht nachzuhelfen.
Oder aber iſt eine feſtbegründete und allgemeine Pietät gegen das Staats-
oberhaupt ein nicht zu verachtendes Machtelement. Zwiſchen ſolcher gei-
ſtigen Macht und einer phyſiſchen mag eine Verwechslung und Aus-
gleichung ſtattfinden; und es kann vielleicht ein mit großer geiſtiger und
nur ſchwacher phyſiſcher Macht ausgerüſteter Regent den Staatszweck voll-
ſtändig zur Erfüllung bringen, während ein jedes ſittlichen Einfluſſes be-
raubtes Oberhaupt lediglich nur durch ein Uebermaß phyſiſcher Macht zu
beſtehen vermag.
⁴⁾ Die vielen und ſcharfſinnigen Unterſuchungen über das Weſen und
den Zweck der Strafe, ſowie über das Recht des Staates zur Androhung
und Vollziehung von Strafen, welche ſeit Beccaria bei allen geſittigten
Völkern angeſtellt worden ſind, leiden an dem großen Mangel, daß ſie
nur das Verhältniß der Strafe zur Rechtsverletzung erörtern, nicht aber
deren Dienlichkeit und erlaubte Anwendbarkeit zur Aufrechterhaltung der
Staatsordnung überhaupt. Von dieſem Standpunkte aus nimmt denn
wohl die durch ein Strafſyſtem zu bewirkende Abſchreckung von Ungehorſam
einen ganz andern Charakter an, als derſelben auf dem engeren Felde der
Rechtsordnung gebührt. Mag es daher ſein, daß ſich die Abſchreckungs-
theorie als Mittel der Rechtsordnung nicht ganz vertheidigen läßt, ſo iſt
ſie nicht denſelben Einwänden ausgeſetzt, wenn es ſich um Beſiegung des
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