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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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finden, wenige Tage zuvor war hier schon Schnee gefallen.
Jn unserm nördlichen Himmelsstrich reichen einige warme
Sonnenstrahlen hin, die ganze Vegetation zu beleben, hier
fängt das Frühjahr überall sehr spät an, und die Ernte
zieht sich bis in den Winter hinein.

Man hatte mich genöthigt, eine Bedeckung von Be-
waffneten mitzunehmen, die ich bis Kaisarieh in jedem Dorfe
wechselte; sie sollten uns gegen die räuberischen Anfälle der
Awscharen schützen, ein turkmanischer Wanderstamm, wel-
cher im Winter im Gebiete von Adana hauset, den Som-
mer aber auf asiatischem Boden lagert und dann seine klei-
nen Bedürfnisse auf Unkosten Anderer zu beziehen pflegt.
Es waren kürzlich Tataren angefallen, Reisende geplündert,
und sogar vor zwei Nächten ein Dorf angegriffen worden,
was alle übrigen Ortschaften in Schrecken gesetzt hatte.

Der dritte Marsch ging in derselben öden und einför-
migen Hochebene westlich fort; mein Tatar richtete sich im-
mer so ein, daß er Pferde und Frühstück in einem Gjaur-
köj oder christlichen Dorfe forderte, denn dort ist er Herr
von dem Augenblick seiner Ankunft bis der Hufschlag sei-
nes Pferdes verhallt. Jn Kasiler-Magara, einem armeni-
schen, hübschen Dorfe, fragte ich, ob gar keine Moslem
dort wohnten: "Olmaß," war die Antwort, "das ist un-
möglich." Warum? "Olmaß!" Endlich erfuhr ich, daß
hier die Höhle sei, in welcher die Siebenschläfer ihren vierzig-
jährigen Schlummer gehalten, und daß ein Türke, der sich
im Dorfe niederläßt, nach vierzig Tagen blind wird. Jch
besuchte die Höhle, in welcher man eine kleine Kirche ge-
baut hat. Nach einer andern wahrscheinlichern Version
sollen die frommen Schläfer ihre Siesta zu Kaisarieh ge-
macht haben.

Nach dem Frühstück erinnerten wir uns des Spru-
ches des Propheten: "Schlafet den Schlaf Kailuleh (den
Mittagsschlaf), denn Satan schläft ihn nicht," und setzten
dann unsern Ritt fort. Aber von Scharkischla aus war es
mit dem schönen Wetter vorbei, der Regen strömte unbarm-

finden, wenige Tage zuvor war hier ſchon Schnee gefallen.
Jn unſerm noͤrdlichen Himmelsſtrich reichen einige warme
Sonnenſtrahlen hin, die ganze Vegetation zu beleben, hier
faͤngt das Fruͤhjahr uͤberall ſehr ſpaͤt an, und die Ernte
zieht ſich bis in den Winter hinein.

Man hatte mich genoͤthigt, eine Bedeckung von Be-
waffneten mitzunehmen, die ich bis Kaiſarieh in jedem Dorfe
wechſelte; ſie ſollten uns gegen die raͤuberiſchen Anfaͤlle der
Awſcharen ſchuͤtzen, ein turkmaniſcher Wanderſtamm, wel-
cher im Winter im Gebiete von Adana hauſet, den Som-
mer aber auf aſiatiſchem Boden lagert und dann ſeine klei-
nen Beduͤrfniſſe auf Unkoſten Anderer zu beziehen pflegt.
Es waren kuͤrzlich Tataren angefallen, Reiſende gepluͤndert,
und ſogar vor zwei Naͤchten ein Dorf angegriffen worden,
was alle uͤbrigen Ortſchaften in Schrecken geſetzt hatte.

Der dritte Marſch ging in derſelben oͤden und einfoͤr-
migen Hochebene weſtlich fort; mein Tatar richtete ſich im-
mer ſo ein, daß er Pferde und Fruͤhſtuͤck in einem Gjaur-
koͤj oder chriſtlichen Dorfe forderte, denn dort iſt er Herr
von dem Augenblick ſeiner Ankunft bis der Hufſchlag ſei-
nes Pferdes verhallt. Jn Kaſiler-Magara, einem armeni-
ſchen, huͤbſchen Dorfe, fragte ich, ob gar keine Moslem
dort wohnten: „Olmaß,“ war die Antwort, „das iſt un-
moͤglich.“ Warum? „Olmaß!“ Endlich erfuhr ich, daß
hier die Hoͤhle ſei, in welcher die Siebenſchlaͤfer ihren vierzig-
jaͤhrigen Schlummer gehalten, und daß ein Tuͤrke, der ſich
im Dorfe niederlaͤßt, nach vierzig Tagen blind wird. Jch
beſuchte die Hoͤhle, in welcher man eine kleine Kirche ge-
baut hat. Nach einer andern wahrſcheinlichern Verſion
ſollen die frommen Schlaͤfer ihre Sieſta zu Kaiſarieh ge-
macht haben.

Nach dem Fruͤhſtuͤck erinnerten wir uns des Spru-
ches des Propheten: „Schlafet den Schlaf Kailuleh (den
Mittagsſchlaf), denn Satan ſchlaͤft ihn nicht,“ und ſetzten
dann unſern Ritt fort. Aber von Scharkiſchla aus war es
mit dem ſchoͤnen Wetter vorbei, der Regen ſtroͤmte unbarm-

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[313/0323] finden, wenige Tage zuvor war hier ſchon Schnee gefallen. Jn unſerm noͤrdlichen Himmelsſtrich reichen einige warme Sonnenſtrahlen hin, die ganze Vegetation zu beleben, hier faͤngt das Fruͤhjahr uͤberall ſehr ſpaͤt an, und die Ernte zieht ſich bis in den Winter hinein. Man hatte mich genoͤthigt, eine Bedeckung von Be- waffneten mitzunehmen, die ich bis Kaiſarieh in jedem Dorfe wechſelte; ſie ſollten uns gegen die raͤuberiſchen Anfaͤlle der Awſcharen ſchuͤtzen, ein turkmaniſcher Wanderſtamm, wel- cher im Winter im Gebiete von Adana hauſet, den Som- mer aber auf aſiatiſchem Boden lagert und dann ſeine klei- nen Beduͤrfniſſe auf Unkoſten Anderer zu beziehen pflegt. Es waren kuͤrzlich Tataren angefallen, Reiſende gepluͤndert, und ſogar vor zwei Naͤchten ein Dorf angegriffen worden, was alle uͤbrigen Ortſchaften in Schrecken geſetzt hatte. Der dritte Marſch ging in derſelben oͤden und einfoͤr- migen Hochebene weſtlich fort; mein Tatar richtete ſich im- mer ſo ein, daß er Pferde und Fruͤhſtuͤck in einem Gjaur- koͤj oder chriſtlichen Dorfe forderte, denn dort iſt er Herr von dem Augenblick ſeiner Ankunft bis der Hufſchlag ſei- nes Pferdes verhallt. Jn Kaſiler-Magara, einem armeni- ſchen, huͤbſchen Dorfe, fragte ich, ob gar keine Moslem dort wohnten: „Olmaß,“ war die Antwort, „das iſt un- moͤglich.“ Warum? „Olmaß!“ Endlich erfuhr ich, daß hier die Hoͤhle ſei, in welcher die Siebenſchlaͤfer ihren vierzig- jaͤhrigen Schlummer gehalten, und daß ein Tuͤrke, der ſich im Dorfe niederlaͤßt, nach vierzig Tagen blind wird. Jch beſuchte die Hoͤhle, in welcher man eine kleine Kirche ge- baut hat. Nach einer andern wahrſcheinlichern Verſion ſollen die frommen Schlaͤfer ihre Sieſta zu Kaiſarieh ge- macht haben. Nach dem Fruͤhſtuͤck erinnerten wir uns des Spru- ches des Propheten: „Schlafet den Schlaf Kailuleh (den Mittagsſchlaf), denn Satan ſchlaͤft ihn nicht,“ und ſetzten dann unſern Ritt fort. Aber von Scharkiſchla aus war es mit dem ſchoͤnen Wetter vorbei, der Regen ſtroͤmte unbarm-

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/323>, abgerufen am 21.11.2024.