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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
günstigen Moment zur Erneuerung des Consulats ohne die
Beschränkungen der valerischen Gesetze. Die gemässigte Partei
der Aristokratie, die Valerier und Horatier an ihrer Spitze,
versuchte, heisst es, im Senat die Abdankung der Decemvirn
zu erzwingen; allein das Haupt der Zehnmänner Appius Clau-
dius, ein leidenschaftlicher Vorfechter der strengen Adelspartei,
gewann bei dem grösseren Theil der Senatoren das Uebergewicht,
und auch das Volk fügte sich. Die Aushebung eines doppelten
Heeres ward ohne Widerspruch vollzogen und der Krieg gegen
die Volsker wie gegen die Sabiner begonnen. Allein die Re-
volution gährte in den Gemüthern; zum Ausbruch brachte sie
die Ermordung des ehemaligen Volkstribuns Lucius Siccius
Dentatus, des tapfersten Mannes in Rom, der in hundert und
zwanzig Schlachten gefochten und fünf und vierzig ehrenvolle
Narben aufzuzeigen hatte, und der jetzt im Lager umgebracht
gefunden ward, ermordet wie es hiess auf Anstiften der Zehn-
männer; ferner der ungerechte Wahrspruch des Appius in dem
Freiheitsprozess gegen die Tochter des Centurionen Lucius Vir-
ginius, die Braut des ehemaligen Volkstribuns Lucius Icilius,
welcher Spruch den Vater zwang seiner Tochter selbst auf
offenem Markt das Messer in die Brust zu stossen, um sie
der Schande zu entreissen. Während das Volk erstarrt ob
der unerhörten That die Leiche des schönen Mädchens um-
stand, befahl der Decemvir seinen Bütteln den Vater und als-
dann den Bräutigam vor seinen Stuhl zu führen und ihm, von
dessen Spruch keine Berufung galt, sofort Rede zu stehen
wegen ihrer Auflehnung gegen seine Gewalt. Nun war das
Mass voll. Während der Senat zittert und schwankt, erschei-
nen der Vater und der Bräutigam mit zahlreichen Zeugen der
furchtbaren That in den beiden Lagern; die Heere verlassen
ihre Führer, sie ziehen in kriegerischer Ordnung durch die
Stadt und abermals auf den heiligen Berg, wo sie abermals
ihre Tribunen sich ernennen. Immer noch weigern die De-
cemvirn die Niederlegung ihrer Gewalt; da erscheint das
Heer mit seinen Tribunen in der Stadt und lagert sich auf
dem Aventin. Jetzt endlich, wo der Bürgerkrieg schon da
war und der Strassenkampf stündlich beginnen konnte, jetzt
entsagen die Zehnmänner ihrer usurpirten und entehrten Ge-
walt und Lucius Valerius und Marcus Horatius vermitteln einen
zweiten Vergleich, durch den das Volkstribunat wieder her-
gestellt wurde. Die Anklagen gegen die Decemvirn endigten
damit, dass die beiden schuldigsten, Appius Claudius und

ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
günstigen Moment zur Erneuerung des Consulats ohne die
Beschränkungen der valerischen Gesetze. Die gemäſsigte Partei
der Aristokratie, die Valerier und Horatier an ihrer Spitze,
versuchte, heiſst es, im Senat die Abdankung der Decemvirn
zu erzwingen; allein das Haupt der Zehnmänner Appius Clau-
dius, ein leidenschaftlicher Vorfechter der strengen Adelspartei,
gewann bei dem gröſseren Theil der Senatoren das Uebergewicht,
und auch das Volk fügte sich. Die Aushebung eines doppelten
Heeres ward ohne Widerspruch vollzogen und der Krieg gegen
die Volsker wie gegen die Sabiner begonnen. Allein die Re-
volution gährte in den Gemüthern; zum Ausbruch brachte sie
die Ermordung des ehemaligen Volkstribuns Lucius Siccius
Dentatus, des tapfersten Mannes in Rom, der in hundert und
zwanzig Schlachten gefochten und fünf und vierzig ehrenvolle
Narben aufzuzeigen hatte, und der jetzt im Lager umgebracht
gefunden ward, ermordet wie es hieſs auf Anstiften der Zehn-
männer; ferner der ungerechte Wahrspruch des Appius in dem
Freiheitsprozeſs gegen die Tochter des Centurionen Lucius Vir-
ginius, die Braut des ehemaligen Volkstribuns Lucius Icilius,
welcher Spruch den Vater zwang seiner Tochter selbst auf
offenem Markt das Messer in die Brust zu stoſsen, um sie
der Schande zu entreiſsen. Während das Volk erstarrt ob
der unerhörten That die Leiche des schönen Mädchens um-
stand, befahl der Decemvir seinen Bütteln den Vater und als-
dann den Bräutigam vor seinen Stuhl zu führen und ihm, von
dessen Spruch keine Berufung galt, sofort Rede zu stehen
wegen ihrer Auflehnung gegen seine Gewalt. Nun war das
Maſs voll. Während der Senat zittert und schwankt, erschei-
nen der Vater und der Bräutigam mit zahlreichen Zeugen der
furchtbaren That in den beiden Lagern; die Heere verlassen
ihre Führer, sie ziehen in kriegerischer Ordnung durch die
Stadt und abermals auf den heiligen Berg, wo sie abermals
ihre Tribunen sich ernennen. Immer noch weigern die De-
cemvirn die Niederlegung ihrer Gewalt; da erscheint das
Heer mit seinen Tribunen in der Stadt und lagert sich auf
dem Aventin. Jetzt endlich, wo der Bürgerkrieg schon da
war und der Straſsenkampf stündlich beginnen konnte, jetzt
entsagen die Zehnmänner ihrer usurpirten und entehrten Ge-
walt und Lucius Valerius und Marcus Horatius vermitteln einen
zweiten Vergleich, durch den das Volkstribunat wieder her-
gestellt wurde. Die Anklagen gegen die Decemvirn endigten
damit, daſs die beiden schuldigsten, Appius Claudius und

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[184/0198] ZWEITES BUCH. KAPITEL II. günstigen Moment zur Erneuerung des Consulats ohne die Beschränkungen der valerischen Gesetze. Die gemäſsigte Partei der Aristokratie, die Valerier und Horatier an ihrer Spitze, versuchte, heiſst es, im Senat die Abdankung der Decemvirn zu erzwingen; allein das Haupt der Zehnmänner Appius Clau- dius, ein leidenschaftlicher Vorfechter der strengen Adelspartei, gewann bei dem gröſseren Theil der Senatoren das Uebergewicht, und auch das Volk fügte sich. Die Aushebung eines doppelten Heeres ward ohne Widerspruch vollzogen und der Krieg gegen die Volsker wie gegen die Sabiner begonnen. Allein die Re- volution gährte in den Gemüthern; zum Ausbruch brachte sie die Ermordung des ehemaligen Volkstribuns Lucius Siccius Dentatus, des tapfersten Mannes in Rom, der in hundert und zwanzig Schlachten gefochten und fünf und vierzig ehrenvolle Narben aufzuzeigen hatte, und der jetzt im Lager umgebracht gefunden ward, ermordet wie es hieſs auf Anstiften der Zehn- männer; ferner der ungerechte Wahrspruch des Appius in dem Freiheitsprozeſs gegen die Tochter des Centurionen Lucius Vir- ginius, die Braut des ehemaligen Volkstribuns Lucius Icilius, welcher Spruch den Vater zwang seiner Tochter selbst auf offenem Markt das Messer in die Brust zu stoſsen, um sie der Schande zu entreiſsen. Während das Volk erstarrt ob der unerhörten That die Leiche des schönen Mädchens um- stand, befahl der Decemvir seinen Bütteln den Vater und als- dann den Bräutigam vor seinen Stuhl zu führen und ihm, von dessen Spruch keine Berufung galt, sofort Rede zu stehen wegen ihrer Auflehnung gegen seine Gewalt. Nun war das Maſs voll. Während der Senat zittert und schwankt, erschei- nen der Vater und der Bräutigam mit zahlreichen Zeugen der furchtbaren That in den beiden Lagern; die Heere verlassen ihre Führer, sie ziehen in kriegerischer Ordnung durch die Stadt und abermals auf den heiligen Berg, wo sie abermals ihre Tribunen sich ernennen. Immer noch weigern die De- cemvirn die Niederlegung ihrer Gewalt; da erscheint das Heer mit seinen Tribunen in der Stadt und lagert sich auf dem Aventin. Jetzt endlich, wo der Bürgerkrieg schon da war und der Straſsenkampf stündlich beginnen konnte, jetzt entsagen die Zehnmänner ihrer usurpirten und entehrten Ge- walt und Lucius Valerius und Marcus Horatius vermitteln einen zweiten Vergleich, durch den das Volkstribunat wieder her- gestellt wurde. Die Anklagen gegen die Decemvirn endigten damit, daſs die beiden schuldigsten, Appius Claudius und

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/198>, abgerufen am 21.11.2024.