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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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DRITTES BUCH. KAPITEL I.
behauptete. -- So ward aus der tyrischen Factorei die Haupt-
stadt eines mächtigen nordafricanischen Reiches, das von der
tripolitanischen Wüste sich erstreckte bis zum atlantischen
Meer, im westlichen Theil (Marocco und Algier) zwar mit zum
Theil oberflächlicher Besetzung der Küstensäume sich begnü-
gend, aber in dem reicheren östlichen, den heutigen Districten
von Constantine und Tunis, auch das Binnenland beherr-
schend und seine Grenze beständig weiter gegen Süden vor-
schiebend; die Karthager waren, wie ein alter Schriftsteller
bezeichnend sagt, aus Tyriern Libyer geworden. Die phoeni-
kische Civilisation herrschte in Libyen ähnlich wie in Klein-
asien und Syrien die griechische nach den Zügen Alexanders,
wenn auch nicht mit gleicher Gewalt. An den Höfen der
Nomadenscheiks ward phoenikisch gesprochen und geschrieben
und die civilisirteren einheimischen Stämme nahmen für ihre
Sprache das phoenikische Alphabet an *. Sie vollständig zu
phoenikisiren lag indess weder im Geiste der Nation noch in
der Politik Karthagos. -- Die Epoche, in der diese Umwand-
lung Karthagos in die Hauptstadt von Libyen stattgefunden
hat, lässt sich um so weniger bestimmen, als die Veränderung
ohne Zweifel stufenweise erfolgt ist. Der eben erwähnte
Schriftsteller nennt als den Reformator der Nation den Hanno;
wenn dies derselbe ist, der zur Zeit des ersten Krieges mit
Rom lebte, so kann er nur als Vollender des neuen Systems
angesehen werden, dessen Durchführung vermuthlich das vierte
und fünfte Jahrhundert Roms ausgefüllt hat. -- Zu allem die-
sem kam endlich das Sinken der grossen phoenikischen Städte
in der Heimath, von Sidon und besonders von Tyros, dessen
Blüthe theils in Folge innerer Bewegungen, theils durch die
Drangsale von aussen, namentlich die Belagerungen durch
Salmanassar im ersten, Nabukodrossor im zweiten, Alexander
im fünften Jahrhundert Roms zu Grunde gerichtet ward. Die
edlen Geschlechter und die alten Firmen von Tyros siedelten
grossentheils über nach der gesicherten und blühenden Tochter-
stadt und brachten dorthin ihre Intelligenz, ihre Capitalien
und ihre Traditionen. Als die Phoenikier mit Rom in Be-

* Wenn die Behauptung gegründet ist, dass das libysche Alphabet zum
Theil ältere Buchstabenformen aufweist als das phoenikische, so folgt daraus
nicht, dass die Libyer die Schrift von älteren Einwanderern erhielten, son-
dern nur, dass die Ableitung des libyschen Alphabets aus dem phoenikischen
einer älteren Periode desselben angehört als die ist, in der die auf uns
gekommenen Denkmäler der phoenikischen Sprache geschrieben wurden.

DRITTES BUCH. KAPITEL I.
behauptete. — So ward aus der tyrischen Factorei die Haupt-
stadt eines mächtigen nordafricanischen Reiches, das von der
tripolitanischen Wüste sich erstreckte bis zum atlantischen
Meer, im westlichen Theil (Marocco und Algier) zwar mit zum
Theil oberflächlicher Besetzung der Küstensäume sich begnü-
gend, aber in dem reicheren östlichen, den heutigen Districten
von Constantine und Tunis, auch das Binnenland beherr-
schend und seine Grenze beständig weiter gegen Süden vor-
schiebend; die Karthager waren, wie ein alter Schriftsteller
bezeichnend sagt, aus Tyriern Libyer geworden. Die phoeni-
kische Civilisation herrschte in Libyen ähnlich wie in Klein-
asien und Syrien die griechische nach den Zügen Alexanders,
wenn auch nicht mit gleicher Gewalt. An den Höfen der
Nomadenscheiks ward phoenikisch gesprochen und geschrieben
und die civilisirteren einheimischen Stämme nahmen für ihre
Sprache das phoenikische Alphabet an *. Sie vollständig zu
phoenikisiren lag indeſs weder im Geiste der Nation noch in
der Politik Karthagos. — Die Epoche, in der diese Umwand-
lung Karthagos in die Hauptstadt von Libyen stattgefunden
hat, läſst sich um so weniger bestimmen, als die Veränderung
ohne Zweifel stufenweise erfolgt ist. Der eben erwähnte
Schriftsteller nennt als den Reformator der Nation den Hanno;
wenn dies derselbe ist, der zur Zeit des ersten Krieges mit
Rom lebte, so kann er nur als Vollender des neuen Systems
angesehen werden, dessen Durchführung vermuthlich das vierte
und fünfte Jahrhundert Roms ausgefüllt hat. — Zu allem die-
sem kam endlich das Sinken der groſsen phoenikischen Städte
in der Heimath, von Sidon und besonders von Tyros, dessen
Blüthe theils in Folge innerer Bewegungen, theils durch die
Drangsale von auſsen, namentlich die Belagerungen durch
Salmanassar im ersten, Nabukodrossor im zweiten, Alexander
im fünften Jahrhundert Roms zu Grunde gerichtet ward. Die
edlen Geschlechter und die alten Firmen von Tyros siedelten
groſsentheils über nach der gesicherten und blühenden Tochter-
stadt und brachten dorthin ihre Intelligenz, ihre Capitalien
und ihre Traditionen. Als die Phoenikier mit Rom in Be-

* Wenn die Behauptung gegründet ist, daſs das libysche Alphabet zum
Theil ältere Buchstabenformen aufweist als das phoenikische, so folgt daraus
nicht, daſs die Libyer die Schrift von älteren Einwanderern erhielten, son-
dern nur, daſs die Ableitung des libyschen Alphabets aus dem phoenikischen
einer älteren Periode desselben angehört als die ist, in der die auf uns
gekommenen Denkmäler der phoenikischen Sprache geschrieben wurden.
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[316/0330] DRITTES BUCH. KAPITEL I. behauptete. — So ward aus der tyrischen Factorei die Haupt- stadt eines mächtigen nordafricanischen Reiches, das von der tripolitanischen Wüste sich erstreckte bis zum atlantischen Meer, im westlichen Theil (Marocco und Algier) zwar mit zum Theil oberflächlicher Besetzung der Küstensäume sich begnü- gend, aber in dem reicheren östlichen, den heutigen Districten von Constantine und Tunis, auch das Binnenland beherr- schend und seine Grenze beständig weiter gegen Süden vor- schiebend; die Karthager waren, wie ein alter Schriftsteller bezeichnend sagt, aus Tyriern Libyer geworden. Die phoeni- kische Civilisation herrschte in Libyen ähnlich wie in Klein- asien und Syrien die griechische nach den Zügen Alexanders, wenn auch nicht mit gleicher Gewalt. An den Höfen der Nomadenscheiks ward phoenikisch gesprochen und geschrieben und die civilisirteren einheimischen Stämme nahmen für ihre Sprache das phoenikische Alphabet an *. Sie vollständig zu phoenikisiren lag indeſs weder im Geiste der Nation noch in der Politik Karthagos. — Die Epoche, in der diese Umwand- lung Karthagos in die Hauptstadt von Libyen stattgefunden hat, läſst sich um so weniger bestimmen, als die Veränderung ohne Zweifel stufenweise erfolgt ist. Der eben erwähnte Schriftsteller nennt als den Reformator der Nation den Hanno; wenn dies derselbe ist, der zur Zeit des ersten Krieges mit Rom lebte, so kann er nur als Vollender des neuen Systems angesehen werden, dessen Durchführung vermuthlich das vierte und fünfte Jahrhundert Roms ausgefüllt hat. — Zu allem die- sem kam endlich das Sinken der groſsen phoenikischen Städte in der Heimath, von Sidon und besonders von Tyros, dessen Blüthe theils in Folge innerer Bewegungen, theils durch die Drangsale von auſsen, namentlich die Belagerungen durch Salmanassar im ersten, Nabukodrossor im zweiten, Alexander im fünften Jahrhundert Roms zu Grunde gerichtet ward. Die edlen Geschlechter und die alten Firmen von Tyros siedelten groſsentheils über nach der gesicherten und blühenden Tochter- stadt und brachten dorthin ihre Intelligenz, ihre Capitalien und ihre Traditionen. Als die Phoenikier mit Rom in Be- * Wenn die Behauptung gegründet ist, daſs das libysche Alphabet zum Theil ältere Buchstabenformen aufweist als das phoenikische, so folgt daraus nicht, daſs die Libyer die Schrift von älteren Einwanderern erhielten, son- dern nur, daſs die Ableitung des libyschen Alphabets aus dem phoenikischen einer älteren Periode desselben angehört als die ist, in der die auf uns gekommenen Denkmäler der phoenikischen Sprache geschrieben wurden.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/330>, abgerufen am 22.11.2024.