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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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LITTERATUR UND KUNST.
litischer und poetischer Stellung erinnert. Von diesem Stand-
punct aus sprach er mit unverwüstlichem gesundem Menschen-
verstand, mit unversiegbar guter Laune und ewig sprudelndem
Witz hinein in das öffentliche Leben.

Jetzt aber am Fest- und Werkeltag
Den ganzen lieben langen Tag
Auf dem Markte von früh bis spat
Stossen die Bürger und die sich vom Rath
Und rühren und regen sich nicht von der Stell.
Dasselbe Handwerk lernt jeder Gesell:
Wie er prellen möge mit Verstand,
Berücke den Andern mit feiner Hand
Und im Schmeicheln und Heucheln werde gewandt.
All' unter einander belauern sie sich,
Als läge jeder mit jedem im Krieg *.

Die Erläuterungen zu diesem unerschöpflichen Text griffen scho-
nungslos, ohne die Freunde, ja ohne den Dichter selbst zu ver-
gessen, die Uebelstände der Zeit an, das Coteriewesen, den end-
losen spanischen Kriegsdienst und was dessen mehr war; gleich
die Eröffnung seiner Satiren war eine grosse Debatte des olym-
pischen Göttersenats über die Frage, ob Rom es noch ferner
verdiene des Schutzes der Himmlischen sich zu erfreuen. Kör-
perschaften, Stände, Individuen wurden überall einzeln mit Na-
men genannt; was die römische Bühne nicht wagen durfte, die
Poesie der politischen Polemik, das ist das rechte Element und
der Lebenshauch der lucilischen Gedichte, die mit einer selbst in
den auf uns gekommenen Trümmern noch entzückenden Macht
des schlagendsten bilderreichsten Witzes ,gleich wie mit gezo-
genem Schwerte' auf den Feind eindringen und ihn zermalmen.
Hier, in dem sittlichen Uebergewicht und dem stolzen Freiheits-
gefühl des Dichters von Suessa, liegt der Grund, wesshalb der
feine Venusiner, der in der alexandrinischen Zeit der römischen
Poesie die lucilische Satire wieder aufnahm, trotz aller Ueber-
legenheit im Formgeschick mit richtiger Bescheidenheit dem äl-
teren Poeten weicht als ,seinem Besseren'. Die Sprache ist die
des griechisch und lateinisch durchgebildeten Mannes, der durch-

* Nunc vero a mane ad noctem, festo atque profesto
Toto itidem pariterque die populusque patresque
Iactare endo foro se omnes, decedere nusquam.
Uni se atque eidem studio omnes dedere et arti:
Verba dare ut caute possint, pugnare dolose,
Blanditia certare, bonum simulare virum se,
Insidias facere ut si hostes sint omnibus omnes.

LITTERATUR UND KUNST.
litischer und poetischer Stellung erinnert. Von diesem Stand-
punct aus sprach er mit unverwüstlichem gesundem Menschen-
verstand, mit unversiegbar guter Laune und ewig sprudelndem
Witz hinein in das öffentliche Leben.

Jetzt aber am Fest- und Werkeltag
Den ganzen lieben langen Tag
Auf dem Markte von früh bis spat
Stoſsen die Bürger und die sich vom Rath
Und rühren und regen sich nicht von der Stell.
Dasselbe Handwerk lernt jeder Gesell:
Wie er prellen möge mit Verstand,
Berücke den Andern mit feiner Hand
Und im Schmeicheln und Heucheln werde gewandt.
All' unter einander belauern sie sich,
Als läge jeder mit jedem im Krieg *.

Die Erläuterungen zu diesem unerschöpflichen Text griffen scho-
nungslos, ohne die Freunde, ja ohne den Dichter selbst zu ver-
gessen, die Uebelstände der Zeit an, das Coteriewesen, den end-
losen spanischen Kriegsdienst und was dessen mehr war; gleich
die Eröffnung seiner Satiren war eine groſse Debatte des olym-
pischen Göttersenats über die Frage, ob Rom es noch ferner
verdiene des Schutzes der Himmlischen sich zu erfreuen. Kör-
perschaften, Stände, Individuen wurden überall einzeln mit Na-
men genannt; was die römische Bühne nicht wagen durfte, die
Poesie der politischen Polemik, das ist das rechte Element und
der Lebenshauch der lucilischen Gedichte, die mit einer selbst in
den auf uns gekommenen Trümmern noch entzückenden Macht
des schlagendsten bilderreichsten Witzes ‚gleich wie mit gezo-
genem Schwerte‘ auf den Feind eindringen und ihn zermalmen.
Hier, in dem sittlichen Uebergewicht und dem stolzen Freiheits-
gefühl des Dichters von Suessa, liegt der Grund, weſshalb der
feine Venusiner, der in der alexandrinischen Zeit der römischen
Poesie die lucilische Satire wieder aufnahm, trotz aller Ueber-
legenheit im Formgeschick mit richtiger Bescheidenheit dem äl-
teren Poeten weicht als ‚seinem Besseren‘. Die Sprache ist die
des griechisch und lateinisch durchgebildeten Mannes, der durch-

* Nunc vero a mane ad noctem, festo atque profesto
Toto itidem pariterque die populusque patresque
Iactare endo foro se omnes, decedere nusquam.
Uni se atque eidem studio omnes dedere et arti:
Verba dare ut caute possint, pugnare dolose,
Blanditia certare, bonum simulare virum se,
Insidias facere ut si hostes sint omnibus omnes.
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[425/0435] LITTERATUR UND KUNST. litischer und poetischer Stellung erinnert. Von diesem Stand- punct aus sprach er mit unverwüstlichem gesundem Menschen- verstand, mit unversiegbar guter Laune und ewig sprudelndem Witz hinein in das öffentliche Leben. Jetzt aber am Fest- und Werkeltag Den ganzen lieben langen Tag Auf dem Markte von früh bis spat Stoſsen die Bürger und die sich vom Rath Und rühren und regen sich nicht von der Stell. Dasselbe Handwerk lernt jeder Gesell: Wie er prellen möge mit Verstand, Berücke den Andern mit feiner Hand Und im Schmeicheln und Heucheln werde gewandt. All' unter einander belauern sie sich, Als läge jeder mit jedem im Krieg *. Die Erläuterungen zu diesem unerschöpflichen Text griffen scho- nungslos, ohne die Freunde, ja ohne den Dichter selbst zu ver- gessen, die Uebelstände der Zeit an, das Coteriewesen, den end- losen spanischen Kriegsdienst und was dessen mehr war; gleich die Eröffnung seiner Satiren war eine groſse Debatte des olym- pischen Göttersenats über die Frage, ob Rom es noch ferner verdiene des Schutzes der Himmlischen sich zu erfreuen. Kör- perschaften, Stände, Individuen wurden überall einzeln mit Na- men genannt; was die römische Bühne nicht wagen durfte, die Poesie der politischen Polemik, das ist das rechte Element und der Lebenshauch der lucilischen Gedichte, die mit einer selbst in den auf uns gekommenen Trümmern noch entzückenden Macht des schlagendsten bilderreichsten Witzes ‚gleich wie mit gezo- genem Schwerte‘ auf den Feind eindringen und ihn zermalmen. Hier, in dem sittlichen Uebergewicht und dem stolzen Freiheits- gefühl des Dichters von Suessa, liegt der Grund, weſshalb der feine Venusiner, der in der alexandrinischen Zeit der römischen Poesie die lucilische Satire wieder aufnahm, trotz aller Ueber- legenheit im Formgeschick mit richtiger Bescheidenheit dem äl- teren Poeten weicht als ‚seinem Besseren‘. Die Sprache ist die des griechisch und lateinisch durchgebildeten Mannes, der durch- * Nunc vero a mane ad noctem, festo atque profesto Toto itidem pariterque die populusque patresque Iactare endo foro se omnes, decedere nusquam. Uni se atque eidem studio omnes dedere et arti: Verba dare ut caute possint, pugnare dolose, Blanditia certare, bonum simulare virum se, Insidias facere ut si hostes sint omnibus omnes.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/435>, abgerufen am 24.11.2024.