Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0027" n="25"/><lb/> und nach immer mehr aͤußernden misanthropischen Wesens verlebten wir Weihnachten und Neujahr. Die sklavische Furcht vor dem Menschen blieb bei den Kindern, besonders bei dem kleinen M. vor wie nach. Das Kind verlor seine Munterkeit; es hing den Kopf und schlief bei der geringsten Stille ein. Wir schalten es deshalb oft in seiner Gegenwart, und es behauptete immer, es fehle ihm nichts. Der Lehrer schwieg bei diesem allen gewoͤhnlich ganz stille. Endlich aber wollte die gute Vorsehung, die ich dafuͤr ewig preisen werde, daß die Sache zum Ausbruche kommen sollte; und dieß geschah auf folgende Art. Ferdinandchen, (der kleine M.) ein Kind, das ein goldnes Herz hat, fragte mich am verwichnen Sonntage beim Abendessen: »Herr Sander (merken Sie, der einzige Lieblingsschriftsteller des Herrn G., aus dem er auch sogar seine Predigten und seine Neujahrswuͤnsche stiehlt, und an welche er denn seine Lappen annaͤhet) ist doch wohl der groͤßte Philosoph?« ― Kaum war diese in hoͤchster Unschuld, wie ein jeder Rechtschaffene fuͤhlt, aufgeworfene Frage; aber meine Antwort noch nicht da: so verzerrte sich das Gesicht seines Lehrers dergestallt arg, daß Kains Gebeerde unmoͤglich fuͤrchterlicher hat aussehen koͤnnen. Er schoß Blicke voll Unmuths, voll des bittersten Unmuths auf das arme Kind. Wir bemerkten es; aber ohne mich daran zu kehren, sagte ich: mein Kind, dafuͤr wird sich Herr Sander wohl selbst nicht ausgeben.<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0027]
und nach immer mehr aͤußernden misanthropischen Wesens verlebten wir Weihnachten und Neujahr. Die sklavische Furcht vor dem Menschen blieb bei den Kindern, besonders bei dem kleinen M. vor wie nach. Das Kind verlor seine Munterkeit; es hing den Kopf und schlief bei der geringsten Stille ein. Wir schalten es deshalb oft in seiner Gegenwart, und es behauptete immer, es fehle ihm nichts. Der Lehrer schwieg bei diesem allen gewoͤhnlich ganz stille. Endlich aber wollte die gute Vorsehung, die ich dafuͤr ewig preisen werde, daß die Sache zum Ausbruche kommen sollte; und dieß geschah auf folgende Art. Ferdinandchen, (der kleine M.) ein Kind, das ein goldnes Herz hat, fragte mich am verwichnen Sonntage beim Abendessen: »Herr Sander (merken Sie, der einzige Lieblingsschriftsteller des Herrn G., aus dem er auch sogar seine Predigten und seine Neujahrswuͤnsche stiehlt, und an welche er denn seine Lappen annaͤhet) ist doch wohl der groͤßte Philosoph?« ― Kaum war diese in hoͤchster Unschuld, wie ein jeder Rechtschaffene fuͤhlt, aufgeworfene Frage; aber meine Antwort noch nicht da: so verzerrte sich das Gesicht seines Lehrers dergestallt arg, daß Kains Gebeerde unmoͤglich fuͤrchterlicher hat aussehen koͤnnen. Er schoß Blicke voll Unmuths, voll des bittersten Unmuths auf das arme Kind. Wir bemerkten es; aber ohne mich daran zu kehren, sagte ich: mein Kind, dafuͤr wird sich Herr Sander wohl selbst nicht ausgeben.
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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