Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786.
Als einen Beitrag zur Seelenheilkunde setze ich noch folgendem Aufsatz aus meinem Tagebuche bei: er ist vom 20sten December 1785. Der Himmel war trübe, und dichte Luft umnebelte die Aussicht. Aus dieser Ursache war es ein unangenehmer finsterer Tag. Gegen Abend begann es kalt zu werden, und die Nacht wurde schneedrohend. So gegen die Abenddämmerung ging ich an den Rhein spatzieren. Alles sah da so feierlich aus; so still umher forderte alles mein Augenmerk. Die Bäume entblättert, die ganze Flur kahl; bei diesem Anblick entzückte mich ein heiliges Ehrfurchtsgefühl für die Natur, die auch im Winter nicht nachläßt, uns zu überzeugen, wie eine gute, liebevolle, zärtliche Mutter sie ist! Wie sie bei jeder ihrer Veränderungen das Geschöpf noch mit tausend der reinsten, sättigendsten Freuden zu vergnügen sucht! wie sie Liebe und Glück über ihre Kinder in ewigen Ergießungen verbreitet! wie sie jedem mit offner, segenvoller Brust entgegeneilt, und in ihre beglückende Arme einschließt!
Als einen Beitrag zur Seelenheilkunde setze ich noch folgendem Aufsatz aus meinem Tagebuche bei: er ist vom 20sten December 1785. Der Himmel war truͤbe, und dichte Luft umnebelte die Aussicht. Aus dieser Ursache war es ein unangenehmer finsterer Tag. Gegen Abend begann es kalt zu werden, und die Nacht wurde schneedrohend. So gegen die Abenddaͤmmerung ging ich an den Rhein spatzieren. Alles sah da so feierlich aus; so still umher forderte alles mein Augenmerk. Die Baͤume entblaͤttert, die ganze Flur kahl; bei diesem Anblick entzuͤckte mich ein heiliges Ehrfurchtsgefuͤhl fuͤr die Natur, die auch im Winter nicht nachlaͤßt, uns zu uͤberzeugen, wie eine gute, liebevolle, zaͤrtliche Mutter sie ist! Wie sie bei jeder ihrer Veraͤnderungen das Geschoͤpf noch mit tausend der reinsten, saͤttigendsten Freuden zu vergnuͤgen sucht! wie sie Liebe und Gluͤck uͤber ihre Kinder in ewigen Ergießungen verbreitet! wie sie jedem mit offner, segenvoller Brust entgegeneilt, und in ihre begluͤckende Arme einschließt! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0120" n="118"/><lb/> kraft schmeichelnden Eindruck stimmbar sind, wie aber auch schwaͤrmende Vorstellungen in dem Kreise eines religioͤsen Jnteresses alle andere verdunkeln, und uͤber den ganzen Menschen siegen. </p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>Als einen Beitrag zur Seelenheilkunde setze ich noch folgendem Aufsatz aus meinem Tagebuche bei: er ist vom 20sten December 1785. </p> <p>Der Himmel war truͤbe, und dichte Luft umnebelte die Aussicht. Aus dieser Ursache war es ein unangenehmer finsterer Tag. Gegen Abend begann es kalt zu werden, und die Nacht wurde schneedrohend. </p> <p>So gegen die Abenddaͤmmerung ging ich an den Rhein spatzieren. Alles sah da so feierlich aus; so still umher forderte alles mein Augenmerk. Die Baͤume entblaͤttert, die ganze Flur kahl; bei diesem Anblick entzuͤckte mich ein heiliges Ehrfurchtsgefuͤhl fuͤr die Natur, die auch im Winter nicht nachlaͤßt, uns zu uͤberzeugen, wie eine gute, liebevolle, zaͤrtliche Mutter sie ist! </p> <p>Wie sie bei jeder ihrer Veraͤnderungen das Geschoͤpf noch mit tausend der reinsten, saͤttigendsten Freuden zu vergnuͤgen sucht! wie sie Liebe und Gluͤck uͤber ihre Kinder in ewigen Ergießungen verbreitet! wie sie jedem mit offner, segenvoller Brust entgegeneilt, und in ihre begluͤckende Arme einschließt! </p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [118/0120]
kraft schmeichelnden Eindruck stimmbar sind, wie aber auch schwaͤrmende Vorstellungen in dem Kreise eines religioͤsen Jnteresses alle andere verdunkeln, und uͤber den ganzen Menschen siegen.
Als einen Beitrag zur Seelenheilkunde setze ich noch folgendem Aufsatz aus meinem Tagebuche bei: er ist vom 20sten December 1785.
Der Himmel war truͤbe, und dichte Luft umnebelte die Aussicht. Aus dieser Ursache war es ein unangenehmer finsterer Tag. Gegen Abend begann es kalt zu werden, und die Nacht wurde schneedrohend.
So gegen die Abenddaͤmmerung ging ich an den Rhein spatzieren. Alles sah da so feierlich aus; so still umher forderte alles mein Augenmerk. Die Baͤume entblaͤttert, die ganze Flur kahl; bei diesem Anblick entzuͤckte mich ein heiliges Ehrfurchtsgefuͤhl fuͤr die Natur, die auch im Winter nicht nachlaͤßt, uns zu uͤberzeugen, wie eine gute, liebevolle, zaͤrtliche Mutter sie ist!
Wie sie bei jeder ihrer Veraͤnderungen das Geschoͤpf noch mit tausend der reinsten, saͤttigendsten Freuden zu vergnuͤgen sucht! wie sie Liebe und Gluͤck uͤber ihre Kinder in ewigen Ergießungen verbreitet! wie sie jedem mit offner, segenvoller Brust entgegeneilt, und in ihre begluͤckende Arme einschließt!
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786/120>, abgerufen am 16.02.2025. |