Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.
Jene aus der Vorstellung eines andern Unglücklichen entstandene Zerstreuung unsrer Vorstellungen, wodurch unsre Aufmerksamkeit von uns selbst abgewandt wird, verbunden mit dem süßen Gefühl des Mitleidens, würde ich daher immer für die vornehmste Ursach der stillen Beruhigung halten, welche wir in uns wahrnehmen, wenn andere mit uns zugleich leiden. Doch ich bin weit entfernt, dies als die einzige Ursach dieser Erfahrung anzugeben. Eine geistige Kraft, dergleichen die menschliche Seele ist, wird durch so erstaunlich viel innere Modificationen verändert, daß der Psychologe eigentlich selten mit völliger Evidenz sagen kann: dies -- und nur dies allein ist der Grund dieser und jener psychologischen Erscheinung! Der Gedanke, daß uns in diesen und jenen Fällen ein Unglück nicht allein und vielleicht auch nur weniger trift; daß diese und jene schiefe Beurtheilung, eine uns zugedachte Schmach nicht allein auf uns fällt; daß mehrere Unglückliche auch für uns zugleich eine größere Sensation mit erregen, unsern Zustand in ein helleres Licht setzen, und sich für uns interessiren werden; daß ich bey den Un-
Jene aus der Vorstellung eines andern Ungluͤcklichen entstandene Zerstreuung unsrer Vorstellungen, wodurch unsre Aufmerksamkeit von uns selbst abgewandt wird, verbunden mit dem suͤßen Gefuͤhl des Mitleidens, wuͤrde ich daher immer fuͤr die vornehmste Ursach der stillen Beruhigung halten, welche wir in uns wahrnehmen, wenn andere mit uns zugleich leiden. Doch ich bin weit entfernt, dies als die einzige Ursach dieser Erfahrung anzugeben. Eine geistige Kraft, dergleichen die menschliche Seele ist, wird durch so erstaunlich viel innere Modificationen veraͤndert, daß der Psychologe eigentlich selten mit voͤlliger Evidenz sagen kann: dies — und nur dies allein ist der Grund dieser und jener psychologischen Erscheinung! Der Gedanke, daß uns in diesen und jenen Faͤllen ein Ungluͤck nicht allein und vielleicht auch nur weniger trift; daß diese und jene schiefe Beurtheilung, eine uns zugedachte Schmach nicht allein auf uns faͤllt; daß mehrere Ungluͤckliche auch fuͤr uns zugleich eine groͤßere Sensation mit erregen, unsern Zustand in ein helleres Licht setzen, und sich fuͤr uns interessiren werden; daß ich bey den Un- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0081" n="81"/><lb/><hi rendition="#b">neben uns</hi> andre Ungluͤckliche denken, zumal wenn wir in unsern Schicksalen mit den ihrigen etwas <hi rendition="#b">homogenes</hi> haben.</p> <p><hi rendition="#b">Jene aus der Vorstellung eines andern Ungluͤcklichen entstandene Zerstreuung unsrer Vorstellungen, wodurch unsre Aufmerksamkeit von uns selbst abgewandt wird, verbunden mit dem suͤßen Gefuͤhl des Mitleidens, wuͤrde ich</hi> daher immer fuͤr die vornehmste Ursach der stillen Beruhigung halten, welche wir in uns wahrnehmen, wenn andere mit uns <hi rendition="#b">zugleich</hi> leiden.</p> <p>Doch ich bin weit entfernt, dies als die <hi rendition="#b">einzige</hi> Ursach dieser Erfahrung anzugeben. Eine geistige Kraft, dergleichen die menschliche Seele ist, wird durch so erstaunlich viel innere Modificationen veraͤndert, daß der Psychologe eigentlich selten mit voͤlliger Evidenz sagen kann: dies — und nur dies allein ist der Grund dieser und jener psychologischen Erscheinung!</p> <p>Der Gedanke, daß uns in diesen und jenen Faͤllen ein Ungluͤck <hi rendition="#b">nicht allein und vielleicht auch nur weniger trift;</hi> daß diese und jene schiefe Beurtheilung, <choice><corr>eine</corr><sic>ein</sic></choice> uns zugedachte Schmach nicht allein auf uns faͤllt; daß mehrere Ungluͤckliche auch fuͤr uns zugleich eine groͤßere Sensation mit erregen, unsern Zustand in ein helleres Licht setzen, und sich fuͤr uns interessiren werden; daß ich bey den Un-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [81/0081]
neben uns andre Ungluͤckliche denken, zumal wenn wir in unsern Schicksalen mit den ihrigen etwas homogenes haben.
Jene aus der Vorstellung eines andern Ungluͤcklichen entstandene Zerstreuung unsrer Vorstellungen, wodurch unsre Aufmerksamkeit von uns selbst abgewandt wird, verbunden mit dem suͤßen Gefuͤhl des Mitleidens, wuͤrde ich daher immer fuͤr die vornehmste Ursach der stillen Beruhigung halten, welche wir in uns wahrnehmen, wenn andere mit uns zugleich leiden.
Doch ich bin weit entfernt, dies als die einzige Ursach dieser Erfahrung anzugeben. Eine geistige Kraft, dergleichen die menschliche Seele ist, wird durch so erstaunlich viel innere Modificationen veraͤndert, daß der Psychologe eigentlich selten mit voͤlliger Evidenz sagen kann: dies — und nur dies allein ist der Grund dieser und jener psychologischen Erscheinung!
Der Gedanke, daß uns in diesen und jenen Faͤllen ein Ungluͤck nicht allein und vielleicht auch nur weniger trift; daß diese und jene schiefe Beurtheilung, eine uns zugedachte Schmach nicht allein auf uns faͤllt; daß mehrere Ungluͤckliche auch fuͤr uns zugleich eine groͤßere Sensation mit erregen, unsern Zustand in ein helleres Licht setzen, und sich fuͤr uns interessiren werden; daß ich bey den Un-
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