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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 3. Berlin, 1789.

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3. Beispiel eines ungewöhnlichen Gedächtnisses.

Zu J......n, einem Dorfe in hiesiger Gegend, lebt ein Mädchen, das wegen seines ungewöhnlich starken Gedächtnisses in der ganzen Gegend berühmt ist. Man sagt, sie sey in ihrer Kindheit ein sehr schönes Kind gewesen, habe aber die Blattern bekommen, und sey so hart daran krank gelegen, daß keine Hoffnung zu ihrer Genesung mehr vorhanden gewesen sei. Die Aeltern haben darüber eine große Wehklage erhoben, und Gott inständigst gebeten, das Kind lieber aller äußerlichen Vorzüge zu berauben, und es nur beim Leben zu erhalten, worauf das Kind wieder genesen, aber blind und von den Blattern entsetzlich entstellt worden sey.

So viel ist richtig: das Mädchen ist blind, und seine Gesichtzüge sind von den Blattern sehr verderbt. -- Bald aber bemerkte man an dem blinden Kinde desto stärkere Seelenkräfte, und besonders ein vortrefliches Gedächtniß. Als es zur Schule gebracht wurde, so brauchte es das, was ihm zu lernen aufgegeben wurde, nur ein einziges-


3. Beispiel eines ungewoͤhnlichen Gedaͤchtnisses.

Zu J......n, einem Dorfe in hiesiger Gegend, lebt ein Maͤdchen, das wegen seines ungewoͤhnlich starken Gedaͤchtnisses in der ganzen Gegend beruͤhmt ist. Man sagt, sie sey in ihrer Kindheit ein sehr schoͤnes Kind gewesen, habe aber die Blattern bekommen, und sey so hart daran krank gelegen, daß keine Hoffnung zu ihrer Genesung mehr vorhanden gewesen sei. Die Aeltern haben daruͤber eine große Wehklage erhoben, und Gott instaͤndigst gebeten, das Kind lieber aller aͤußerlichen Vorzuͤge zu berauben, und es nur beim Leben zu erhalten, worauf das Kind wieder genesen, aber blind und von den Blattern entsetzlich entstellt worden sey.

So viel ist richtig: das Maͤdchen ist blind, und seine Gesichtzuͤge sind von den Blattern sehr verderbt. — Bald aber bemerkte man an dem blinden Kinde desto staͤrkere Seelenkraͤfte, und besonders ein vortrefliches Gedaͤchtniß. Als es zur Schule gebracht wurde, so brauchte es das, was ihm zu lernen aufgegeben wurde, nur ein einziges-

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[117/0117] 3. Beispiel eines ungewoͤhnlichen Gedaͤchtnisses. Zu J......n, einem Dorfe in hiesiger Gegend, lebt ein Maͤdchen, das wegen seines ungewoͤhnlich starken Gedaͤchtnisses in der ganzen Gegend beruͤhmt ist. Man sagt, sie sey in ihrer Kindheit ein sehr schoͤnes Kind gewesen, habe aber die Blattern bekommen, und sey so hart daran krank gelegen, daß keine Hoffnung zu ihrer Genesung mehr vorhanden gewesen sei. Die Aeltern haben daruͤber eine große Wehklage erhoben, und Gott instaͤndigst gebeten, das Kind lieber aller aͤußerlichen Vorzuͤge zu berauben, und es nur beim Leben zu erhalten, worauf das Kind wieder genesen, aber blind und von den Blattern entsetzlich entstellt worden sey. So viel ist richtig: das Maͤdchen ist blind, und seine Gesichtzuͤge sind von den Blattern sehr verderbt. — Bald aber bemerkte man an dem blinden Kinde desto staͤrkere Seelenkraͤfte, und besonders ein vortrefliches Gedaͤchtniß. Als es zur Schule gebracht wurde, so brauchte es das, was ihm zu lernen aufgegeben wurde, nur ein einziges-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 3. Berlin, 1789, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0703_1789/117>, abgerufen am 24.11.2024.