Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.Jndessen könnten die Stubengelehrten etwas sehr Nützliches verrichten, woran noch niemand gedacht hat. Es giebt so viele Lesebücher für alle Stände, und für jedes Alter, aber noch gar keins für Züchtlinge, besonders in solchen Zuchthäusern, wo sie nicht arbeiten müssen. Die meisten fühlen in dieser Lage eine Begierde zu lesen, die so heftig werden kann, als der Hunger oder der Durst. Sie lesen oft Zeitungsblätter die 10 Jahr alt sind, so oft durch, daß sie sie endlich auswendig wissen. Noch hat man kein Buch, daß man diesen Menschen in die Hände geben könnte, um ihnen die Zeit zu kürzen, und sie zu gleicher Zeit zu bessern, und doch wäre nichts leichter als ein solches Buch zu schreiben, denn die Züchtlinge sind nichts weniger als delikat im Lesen; und um es recht zweckmäßig ausarbeiten zu können, müßte der Verfasser nur selbst einige Jahre in einem Zuchthause zugebracht haben. Die Gefängnisse haben ihre eigene Moral, ihre eigene Logik und ihre eigene Art zu empfinden, so wie die Klöster und die Seeschiffe. S. 8. Z. 9. b. z. Ende. Diese Schildrung ist vortreflich, und die Bemerkungen sind sehr fein. Man siehet daraus, wie wenig ein Gelehrter, der aus seiner Studierstube tritt, zu Geschäften fähig ist, wie oft er sich irren, und aus diesem Grunde schlecht betragen kann. Ein Theil dieser Bemerkungen wirft zugleich ein grosses Licht auf den Streit, den Rousseau mit David Hume gehabt Jndessen koͤnnten die Stubengelehrten etwas sehr Nuͤtzliches verrichten, woran noch niemand gedacht hat. Es giebt so viele Lesebuͤcher fuͤr alle Staͤnde, und fuͤr jedes Alter, aber noch gar keins fuͤr Zuͤchtlinge, besonders in solchen Zuchthaͤusern, wo sie nicht arbeiten muͤssen. Die meisten fuͤhlen in dieser Lage eine Begierde zu lesen, die so heftig werden kann, als der Hunger oder der Durst. Sie lesen oft Zeitungsblaͤtter die 10 Jahr alt sind, so oft durch, daß sie sie endlich auswendig wissen. Noch hat man kein Buch, daß man diesen Menschen in die Haͤnde geben koͤnnte, um ihnen die Zeit zu kuͤrzen, und sie zu gleicher Zeit zu bessern, und doch waͤre nichts leichter als ein solches Buch zu schreiben, denn die Zuͤchtlinge sind nichts weniger als delikat im Lesen; und um es recht zweckmaͤßig ausarbeiten zu koͤnnen, muͤßte der Verfasser nur selbst einige Jahre in einem Zuchthause zugebracht haben. Die Gefaͤngnisse haben ihre eigene Moral, ihre eigene Logik und ihre eigene Art zu empfinden, so wie die Kloͤster und die Seeschiffe. S. 8. Z. 9. b. z. Ende. Diese Schildrung ist vortreflich, und die Bemerkungen sind sehr fein. Man siehet daraus, wie wenig ein Gelehrter, der aus seiner Studierstube tritt, zu Geschaͤften faͤhig ist, wie oft er sich irren, und aus diesem Grunde schlecht betragen kann. Ein Theil dieser Bemerkungen wirft zugleich ein grosses Licht auf den Streit, den Rousseau mit David Hume gehabt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0068" n="68"/><lb/> <p>Jndessen koͤnnten die Stubengelehrten etwas sehr Nuͤtzliches verrichten, woran noch niemand gedacht hat. Es giebt so viele Lesebuͤcher fuͤr alle Staͤnde, und fuͤr jedes Alter, aber noch gar keins fuͤr Zuͤchtlinge, besonders in solchen Zuchthaͤusern, wo sie nicht arbeiten muͤssen. Die meisten fuͤhlen in dieser Lage eine Begierde zu lesen, die so heftig werden kann, als der Hunger oder der Durst. Sie lesen oft Zeitungsblaͤtter die 10 Jahr alt sind, so oft durch, daß sie sie endlich auswendig wissen. Noch hat man kein Buch, daß man diesen Menschen in die Haͤnde geben koͤnnte, um ihnen die Zeit zu kuͤrzen, und sie zu gleicher Zeit zu bessern, und doch waͤre nichts leichter als ein solches Buch zu schreiben, denn die Zuͤchtlinge sind nichts weniger als delikat im Lesen; und um es recht zweckmaͤßig ausarbeiten zu koͤnnen, muͤßte der Verfasser nur selbst einige Jahre in einem Zuchthause zugebracht haben. Die Gefaͤngnisse haben ihre eigene Moral, ihre eigene Logik und ihre eigene Art zu empfinden, so wie die Kloͤster und die Seeschiffe. </p> <p>S. 8. Z. 9. b. z. Ende. Diese Schildrung ist vortreflich, und die Bemerkungen sind sehr fein. Man siehet daraus, wie wenig ein Gelehrter, der aus seiner Studierstube tritt, zu Geschaͤften faͤhig ist, wie oft er sich irren, und aus diesem Grunde schlecht betragen kann. Ein Theil dieser Bemerkungen wirft zugleich ein grosses Licht auf den Streit, den <hi rendition="#b">Rousseau</hi> mit <hi rendition="#b">David Hume</hi> gehabt<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [68/0068]
Jndessen koͤnnten die Stubengelehrten etwas sehr Nuͤtzliches verrichten, woran noch niemand gedacht hat. Es giebt so viele Lesebuͤcher fuͤr alle Staͤnde, und fuͤr jedes Alter, aber noch gar keins fuͤr Zuͤchtlinge, besonders in solchen Zuchthaͤusern, wo sie nicht arbeiten muͤssen. Die meisten fuͤhlen in dieser Lage eine Begierde zu lesen, die so heftig werden kann, als der Hunger oder der Durst. Sie lesen oft Zeitungsblaͤtter die 10 Jahr alt sind, so oft durch, daß sie sie endlich auswendig wissen. Noch hat man kein Buch, daß man diesen Menschen in die Haͤnde geben koͤnnte, um ihnen die Zeit zu kuͤrzen, und sie zu gleicher Zeit zu bessern, und doch waͤre nichts leichter als ein solches Buch zu schreiben, denn die Zuͤchtlinge sind nichts weniger als delikat im Lesen; und um es recht zweckmaͤßig ausarbeiten zu koͤnnen, muͤßte der Verfasser nur selbst einige Jahre in einem Zuchthause zugebracht haben. Die Gefaͤngnisse haben ihre eigene Moral, ihre eigene Logik und ihre eigene Art zu empfinden, so wie die Kloͤster und die Seeschiffe.
S. 8. Z. 9. b. z. Ende. Diese Schildrung ist vortreflich, und die Bemerkungen sind sehr fein. Man siehet daraus, wie wenig ein Gelehrter, der aus seiner Studierstube tritt, zu Geschaͤften faͤhig ist, wie oft er sich irren, und aus diesem Grunde schlecht betragen kann. Ein Theil dieser Bemerkungen wirft zugleich ein grosses Licht auf den Streit, den Rousseau mit David Hume gehabt
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