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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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leicht das geschichtliche Leben durch den allgemei-
nen Begriff getödtet wird, und es die Schranke
der historischen wie naturgeschichtlichen Forschung
zu sein scheint, daß wir zwar den tiefen Zusam-
menhang des faktisch Erkannten einzusehn, und so
zum Allgemeinen aufzusteigen, aber nie vom
Allgemeinen ab das Besondre, dem göttlichen Gei-
ste gleichsam nachschaffend, zu gestalten vermögen.
Meine Aufgabe ging auf keinerlei Construction,
sondern einzig darauf, aus genauer Betrachtung
des Dorischen Lebens in allen seinen Kreisen und
Richtungen das eigenthümliche Wesen dieses Stam-
mes, wie eines einzelnen Menschen aus seinen
Handlungen und Reden, mit möglichster Schärfe
und Bestimmtheit auszumitteln; welche Aufgabe
freilich an der scheinbar unauflöslichen Schwierig-
keit leidet, daß wir uns einerseits schon einen Be-
griff von dem geistigen Wesen eines Volkes gebil-
det haben müssen, ehe wir dasselbe in dem äußern
Handeln der Einzelnen, in denen sich die Sinnes-
art der Gesammtheit mehr oder minder darstellt,
zu erkennen und nachzuweisen vermögen, und daß
uns andrerseits doch nichts Anders als die unbe-
fangenste Betrachtung des Letztern zur richtigen
Erkenntniß des Erstern führen kann: aber dies
ist keine unsrer Aufgabe eigenthümliche Schwie-
rigkeit, sondern der in jeder historischen Forschung
mehr oder minder stattfindende Cirkel. Bedeu-
tender ist die, daß die Masse und Vielartigkeit

leicht das geſchichtliche Leben durch den allgemei-
nen Begriff getoͤdtet wird, und es die Schranke
der hiſtoriſchen wie naturgeſchichtlichen Forſchung
zu ſein ſcheint, daß wir zwar den tiefen Zuſam-
menhang des faktiſch Erkannten einzuſehn, und ſo
zum Allgemeinen aufzuſteigen, aber nie vom
Allgemeinen ab das Beſondre, dem goͤttlichen Gei-
ſte gleichſam nachſchaffend, zu geſtalten vermoͤgen.
Meine Aufgabe ging auf keinerlei Conſtruction,
ſondern einzig darauf, aus genauer Betrachtung
des Doriſchen Lebens in allen ſeinen Kreiſen und
Richtungen das eigenthuͤmliche Weſen dieſes Stam-
mes, wie eines einzelnen Menſchen aus ſeinen
Handlungen und Reden, mit moͤglichſter Schaͤrfe
und Beſtimmtheit auszumitteln; welche Aufgabe
freilich an der ſcheinbar unaufloͤslichen Schwierig-
keit leidet, daß wir uns einerſeits ſchon einen Be-
griff von dem geiſtigen Weſen eines Volkes gebil-
det haben muͤſſen, ehe wir daſſelbe in dem aͤußern
Handeln der Einzelnen, in denen ſich die Sinnes-
art der Geſammtheit mehr oder minder darſtellt,
zu erkennen und nachzuweiſen vermoͤgen, und daß
uns andrerſeits doch nichts Anders als die unbe-
fangenſte Betrachtung des Letztern zur richtigen
Erkenntniß des Erſtern fuͤhren kann: aber dies
iſt keine unſrer Aufgabe eigenthuͤmliche Schwie-
rigkeit, ſondern der in jeder hiſtoriſchen Forſchung
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[VII/0013] leicht das geſchichtliche Leben durch den allgemei- nen Begriff getoͤdtet wird, und es die Schranke der hiſtoriſchen wie naturgeſchichtlichen Forſchung zu ſein ſcheint, daß wir zwar den tiefen Zuſam- menhang des faktiſch Erkannten einzuſehn, und ſo zum Allgemeinen aufzuſteigen, aber nie vom Allgemeinen ab das Beſondre, dem goͤttlichen Gei- ſte gleichſam nachſchaffend, zu geſtalten vermoͤgen. Meine Aufgabe ging auf keinerlei Conſtruction, ſondern einzig darauf, aus genauer Betrachtung des Doriſchen Lebens in allen ſeinen Kreiſen und Richtungen das eigenthuͤmliche Weſen dieſes Stam- mes, wie eines einzelnen Menſchen aus ſeinen Handlungen und Reden, mit moͤglichſter Schaͤrfe und Beſtimmtheit auszumitteln; welche Aufgabe freilich an der ſcheinbar unaufloͤslichen Schwierig- keit leidet, daß wir uns einerſeits ſchon einen Be- griff von dem geiſtigen Weſen eines Volkes gebil- det haben muͤſſen, ehe wir daſſelbe in dem aͤußern Handeln der Einzelnen, in denen ſich die Sinnes- art der Geſammtheit mehr oder minder darſtellt, zu erkennen und nachzuweiſen vermoͤgen, und daß uns andrerſeits doch nichts Anders als die unbe- fangenſte Betrachtung des Letztern zur richtigen Erkenntniß des Erſtern fuͤhren kann: aber dies iſt keine unſrer Aufgabe eigenthuͤmliche Schwie- rigkeit, ſondern der in jeder hiſtoriſchen Forſchung mehr oder minder ſtattfindende Cirkel. Bedeu- tender iſt die, daß die Maſſe und Vielartigkeit

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/13>, abgerufen am 29.04.2024.