Kunst folgen lasse, und alles Dies unter dem Ti- tel von Geschichte, wird Niemand tadeln, der nicht von Geschichte überhaupt sehr enge und unleben- dige Vorstellungen hat. Die Religion, gebildet in Zeiten, da Staat und Recht noch embryonisch in den Keimen lagen, und als diese sich zu ge- stalten anfingen, schon lange festgestellt, ist ganz eigentlich die älteste Geschichtsurkunde des geisti- gen Lebens einer Nation, zumal wenn nachgewie- sen wird, was bei der Dorischen des Apollon mit genügender Evidenz geschehen zu sein scheint: daß sie der Volkstamm nicht durch äußerliche Ueber- tragung erhalten, sondern aus dem eignen reli- giösen Gefühl zur bestimmten Gestalt erschaffen habe. Wie schwierig aber die Behandlung die- ses Gegenstandes sei, mag am besten die Betrach- tung lehren, daß überhaupt keine Religion, mit Ausnahme des Christenthums, in einer geschicht- lichen Zeit neu entstanden ist, daß aller andern Ursprung in einer völlig verhüllten Urzelt liegt, welche ein später untergegangnes Vermögen, religiöse Gefühle in bestimmter Form festzuhalten und dem Bedürfniß des Glaubens sein Objekt zu schaffen, besessen haben muß. In einer solchen Zeit ruhend stehen beim ersten dämmernden Beginn der Geschichte die Gottheiten und Culte aller Völker schon vor uns, den Sprachen ähnlich, die auch nie- mals nachweisbar ein neues wesentliches Element, ein Wurzelwort oder eine Flexion, erhalten haben;
Kunſt folgen laſſe, und alles Dies unter dem Ti- tel von Geſchichte, wird Niemand tadeln, der nicht von Geſchichte uͤberhaupt ſehr enge und unleben- dige Vorſtellungen hat. Die Religion, gebildet in Zeiten, da Staat und Recht noch embryoniſch in den Keimen lagen, und als dieſe ſich zu ge- ſtalten anfingen, ſchon lange feſtgeſtellt, iſt ganz eigentlich die aͤlteſte Geſchichtsurkunde des geiſti- gen Lebens einer Nation, zumal wenn nachgewie- ſen wird, was bei der Doriſchen des Apollon mit genuͤgender Evidenz geſchehen zu ſein ſcheint: daß ſie der Volkſtamm nicht durch aͤußerliche Ueber- tragung erhalten, ſondern aus dem eignen reli- gioͤſen Gefuͤhl zur beſtimmten Geſtalt erſchaffen habe. Wie ſchwierig aber die Behandlung die- ſes Gegenſtandes ſei, mag am beſten die Betrach- tung lehren, daß uͤberhaupt keine Religion, mit Ausnahme des Chriſtenthums, in einer geſchicht- lichen Zeit neu entſtanden iſt, daß aller andern Urſprung in einer voͤllig verhuͤllten Urzelt liegt, welche ein ſpaͤter untergegangnes Vermoͤgen, religioͤſe Gefuͤhle in beſtimmter Form feſtzuhalten und dem Beduͤrfniß des Glaubens ſein Objekt zu ſchaffen, beſeſſen haben muß. In einer ſolchen Zeit ruhend ſtehen beim erſten daͤmmernden Beginn der Geſchichte die Gottheiten und Culte aller Voͤlker ſchon vor uns, den Sprachen aͤhnlich, die auch nie- mals nachweisbar ein neues weſentliches Element, ein Wurzelwort oder eine Flexion, erhalten haben;
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0015"n="IX"/>
Kunſt folgen laſſe, und alles Dies unter dem Ti-<lb/>
tel von Geſchichte, wird Niemand tadeln, der nicht<lb/>
von Geſchichte uͤberhaupt ſehr enge und unleben-<lb/>
dige Vorſtellungen hat. Die Religion, gebildet<lb/>
in Zeiten, da Staat und Recht noch embryoniſch<lb/>
in den Keimen lagen, und als dieſe ſich zu ge-<lb/>ſtalten anfingen, ſchon lange feſtgeſtellt, iſt ganz<lb/>
eigentlich die aͤlteſte Geſchichtsurkunde des geiſti-<lb/>
gen Lebens einer Nation, zumal wenn nachgewie-<lb/>ſen wird, was bei der Doriſchen des Apollon mit<lb/>
genuͤgender Evidenz geſchehen zu ſein ſcheint: daß<lb/>ſie der Volkſtamm nicht durch aͤußerliche Ueber-<lb/>
tragung erhalten, ſondern aus dem eignen reli-<lb/>
gioͤſen Gefuͤhl zur beſtimmten Geſtalt erſchaffen<lb/>
habe. Wie ſchwierig aber die Behandlung die-<lb/>ſes Gegenſtandes ſei, mag am beſten die Betrach-<lb/>
tung lehren, daß uͤberhaupt keine Religion, mit<lb/>
Ausnahme des Chriſtenthums, in einer geſchicht-<lb/>
lichen Zeit neu entſtanden iſt, daß aller andern<lb/>
Urſprung in einer voͤllig verhuͤllten Urzelt liegt,<lb/>
welche ein ſpaͤter untergegangnes Vermoͤgen,<lb/>
religioͤſe Gefuͤhle in beſtimmter Form feſtzuhalten<lb/>
und dem Beduͤrfniß des Glaubens ſein Objekt zu<lb/>ſchaffen, beſeſſen haben muß. In einer ſolchen<lb/>
Zeit ruhend ſtehen beim erſten daͤmmernden Beginn<lb/>
der Geſchichte die Gottheiten und Culte aller Voͤlker<lb/>ſchon vor uns, den Sprachen aͤhnlich, die auch nie-<lb/>
mals nachweisbar ein neues weſentliches Element,<lb/>
ein Wurzelwort oder eine Flexion, erhalten haben;<lb/></p></div></front></text></TEI>
[IX/0015]
Kunſt folgen laſſe, und alles Dies unter dem Ti-
tel von Geſchichte, wird Niemand tadeln, der nicht
von Geſchichte uͤberhaupt ſehr enge und unleben-
dige Vorſtellungen hat. Die Religion, gebildet
in Zeiten, da Staat und Recht noch embryoniſch
in den Keimen lagen, und als dieſe ſich zu ge-
ſtalten anfingen, ſchon lange feſtgeſtellt, iſt ganz
eigentlich die aͤlteſte Geſchichtsurkunde des geiſti-
gen Lebens einer Nation, zumal wenn nachgewie-
ſen wird, was bei der Doriſchen des Apollon mit
genuͤgender Evidenz geſchehen zu ſein ſcheint: daß
ſie der Volkſtamm nicht durch aͤußerliche Ueber-
tragung erhalten, ſondern aus dem eignen reli-
gioͤſen Gefuͤhl zur beſtimmten Geſtalt erſchaffen
habe. Wie ſchwierig aber die Behandlung die-
ſes Gegenſtandes ſei, mag am beſten die Betrach-
tung lehren, daß uͤberhaupt keine Religion, mit
Ausnahme des Chriſtenthums, in einer geſchicht-
lichen Zeit neu entſtanden iſt, daß aller andern
Urſprung in einer voͤllig verhuͤllten Urzelt liegt,
welche ein ſpaͤter untergegangnes Vermoͤgen,
religioͤſe Gefuͤhle in beſtimmter Form feſtzuhalten
und dem Beduͤrfniß des Glaubens ſein Objekt zu
ſchaffen, beſeſſen haben muß. In einer ſolchen
Zeit ruhend ſtehen beim erſten daͤmmernden Beginn
der Geſchichte die Gottheiten und Culte aller Voͤlker
ſchon vor uns, den Sprachen aͤhnlich, die auch nie-
mals nachweisbar ein neues weſentliches Element,
ein Wurzelwort oder eine Flexion, erhalten haben;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/15>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.