Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

einheimischen Sagenkreisen sich wiederfinden, so daß
man an der Einwirkung der einen Sagenreihe auf die an-
dere nicht zweifeln kann. Wollte jemand aber vielleicht
die Peloponnesische Sage jederzeit für die vorhergehende,
die nördliche für die abgeleitete, z. B. die Thaten des
Herakles am Epeirotischen Acheron für jünger als den
Kampf um Pylos, erklären, weil wirklich die letztere
von epischen Dichtern theilweise früher und ausführli-
cher erwähnt wird: so ist dagegen ein für allemal zu
sagen, daß -- wenn es irgend eine wissenschaftliche
Mythenkritik geben soll -- diese einem höhern Gesetze
als dem Alter der zufällig erhaltenen Dichterstellen
folgen müsse, und dann gewiß keinem andern, als
dem auszumittelnden organischen und sonach ursprüng-
lichen Zusammenhange eines Mythenkreises, aus dessen
Bildungsprinzip erst Genesis und Geschichte der einzel-
nen Mythen begriffen und bestimmt werden kann.

Weit leichter ist die Aufgabe solcher Deduktionen
bei Mythen, welche in Colonien oder denen Ländern
spielen, mit welchen die Griechen erst später bekannt
geworden sind, weil die auf die Mythenbildung einwir-
kenden Umstände hier mehr innerhalb des Gesichtskrei-
ses unserer geschichtlichen Kenntnisse liegen. Zugleich
aber erlaubt die hier bestimmt nachweisliche Art der
Entstehung durch Analogie rückwärts zu schließen auf
die Genesis solcher, die außerhalb dieses Kreises liegen.

5.

Von Sparta, wo Herakles ganz vorzüglich
verehrt wurde, hatte sich das Ansehn des Dienstes
nach den Kolonien, namentlich Tarent 1 und Kroton
verbreitet. In der letztern Stadt genoß Herakles selbst die
Ehren eines Gründers 2; es scheint, daß man ihn auf

1 S. Heyne ad Aen. 3. Exc. 14. Daher die Kolonie He-
rakleia
.
2 OIKISTAM auf Münzen.

einheimiſchen Sagenkreiſen ſich wiederfinden, ſo daß
man an der Einwirkung der einen Sagenreihe auf die an-
dere nicht zweifeln kann. Wollte jemand aber vielleicht
die Peloponneſiſche Sage jederzeit fuͤr die vorhergehende,
die noͤrdliche fuͤr die abgeleitete, z. B. die Thaten des
Herakles am Epeirotiſchen Acheron fuͤr juͤnger als den
Kampf um Pylos, erklaͤren, weil wirklich die letztere
von epiſchen Dichtern theilweiſe fruͤher und ausfuͤhrli-
cher erwaͤhnt wird: ſo iſt dagegen ein fuͤr allemal zu
ſagen, daß — wenn es irgend eine wiſſenſchaftliche
Mythenkritik geben ſoll — dieſe einem hoͤhern Geſetze
als dem Alter der zufaͤllig erhaltenen Dichterſtellen
folgen muͤſſe, und dann gewiß keinem andern, als
dem auszumittelnden organiſchen und ſonach urſpruͤng-
lichen Zuſammenhange eines Mythenkreiſes, aus deſſen
Bildungsprinzip erſt Geneſis und Geſchichte der einzel-
nen Mythen begriffen und beſtimmt werden kann.

Weit leichter iſt die Aufgabe ſolcher Deduktionen
bei Mythen, welche in Colonien oder denen Laͤndern
ſpielen, mit welchen die Griechen erſt ſpaͤter bekannt
geworden ſind, weil die auf die Mythenbildung einwir-
kenden Umſtaͤnde hier mehr innerhalb des Geſichtskrei-
ſes unſerer geſchichtlichen Kenntniſſe liegen. Zugleich
aber erlaubt die hier beſtimmt nachweisliche Art der
Entſtehung durch Analogie ruͤckwaͤrts zu ſchließen auf
die Geneſis ſolcher, die außerhalb dieſes Kreiſes liegen.

5.

Von Sparta, wo Herakles ganz vorzuͤglich
verehrt wurde, hatte ſich das Anſehn des Dienſtes
nach den Kolonien, namentlich Tarent 1 und Kroton
verbreitet. In der letztern Stadt genoß Herakles ſelbſt die
Ehren eines Gruͤnders 2; es ſcheint, daß man ihn auf

1 S. Heyne ad Aen. 3. Exc. 14. Daher die Kolonie He-
rakleia
.
2 ΟΙΚΙΣΤΑΜ auf Muͤnzen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0478" n="448"/>
einheimi&#x017F;chen Sagenkrei&#x017F;en &#x017F;ich wiederfinden, &#x017F;o daß<lb/>
man an der Einwirkung der einen Sagenreihe auf die an-<lb/>
dere nicht zweifeln kann. Wollte jemand aber vielleicht<lb/>
die Peloponne&#x017F;i&#x017F;che Sage jederzeit fu&#x0364;r die vorhergehende,<lb/>
die no&#x0364;rdliche fu&#x0364;r die abgeleitete, z. B. die Thaten des<lb/>
Herakles am Epeiroti&#x017F;chen Acheron fu&#x0364;r ju&#x0364;nger als den<lb/>
Kampf um Pylos, erkla&#x0364;ren, weil wirklich die letztere<lb/>
von epi&#x017F;chen Dichtern theilwei&#x017F;e fru&#x0364;her und ausfu&#x0364;hrli-<lb/>
cher erwa&#x0364;hnt wird: &#x017F;o i&#x017F;t dagegen ein fu&#x0364;r allemal zu<lb/>
&#x017F;agen, daß &#x2014; wenn es irgend eine wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche<lb/>
Mythenkritik geben &#x017F;oll &#x2014; die&#x017F;e einem ho&#x0364;hern Ge&#x017F;etze<lb/>
als dem Alter der zufa&#x0364;llig erhaltenen Dichter&#x017F;tellen<lb/>
folgen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, und dann gewiß keinem andern, als<lb/>
dem auszumittelnden organi&#x017F;chen und &#x017F;onach ur&#x017F;pru&#x0364;ng-<lb/>
lichen Zu&#x017F;ammenhange eines Mythenkrei&#x017F;es, aus de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Bildungsprinzip er&#x017F;t Gene&#x017F;is und Ge&#x017F;chichte der einzel-<lb/>
nen Mythen begriffen und be&#x017F;timmt werden kann.</p><lb/>
              <p>Weit leichter i&#x017F;t die Aufgabe &#x017F;olcher Deduktionen<lb/>
bei Mythen, welche in Colonien oder denen La&#x0364;ndern<lb/>
&#x017F;pielen, mit welchen die Griechen er&#x017F;t &#x017F;pa&#x0364;ter bekannt<lb/>
geworden &#x017F;ind, weil die auf die Mythenbildung einwir-<lb/>
kenden Um&#x017F;ta&#x0364;nde hier mehr innerhalb des Ge&#x017F;ichtskrei-<lb/>
&#x017F;es un&#x017F;erer ge&#x017F;chichtlichen Kenntni&#x017F;&#x017F;e liegen. Zugleich<lb/>
aber erlaubt die hier be&#x017F;timmt nachweisliche Art der<lb/>
Ent&#x017F;tehung durch Analogie ru&#x0364;ckwa&#x0364;rts zu &#x017F;chließen auf<lb/>
die Gene&#x017F;is &#x017F;olcher, die außerhalb die&#x017F;es Krei&#x017F;es liegen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>5.</head><lb/>
              <p>Von Sparta, wo Herakles ganz vorzu&#x0364;glich<lb/>
verehrt wurde, hatte &#x017F;ich das An&#x017F;ehn des Dien&#x017F;tes<lb/>
nach den Kolonien, namentlich <hi rendition="#g">Tarent</hi> <note place="foot" n="1">S. Heyne <hi rendition="#aq">ad Aen. 3. Exc.</hi> 14. Daher die Kolonie <hi rendition="#g">He-<lb/>
rakleia</hi>.</note> und <hi rendition="#g">Kroton</hi><lb/>
verbreitet. In der letztern Stadt genoß Herakles &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/>
Ehren eines Gru&#x0364;nders <note place="foot" n="2">&#x039F;&#x0399;&#x039A;&#x0399;&#x03A3;&#x03A4;&#x0391;&#x039C; auf Mu&#x0364;nzen.</note>; es &#x017F;cheint, daß man ihn auf<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[448/0478] einheimiſchen Sagenkreiſen ſich wiederfinden, ſo daß man an der Einwirkung der einen Sagenreihe auf die an- dere nicht zweifeln kann. Wollte jemand aber vielleicht die Peloponneſiſche Sage jederzeit fuͤr die vorhergehende, die noͤrdliche fuͤr die abgeleitete, z. B. die Thaten des Herakles am Epeirotiſchen Acheron fuͤr juͤnger als den Kampf um Pylos, erklaͤren, weil wirklich die letztere von epiſchen Dichtern theilweiſe fruͤher und ausfuͤhrli- cher erwaͤhnt wird: ſo iſt dagegen ein fuͤr allemal zu ſagen, daß — wenn es irgend eine wiſſenſchaftliche Mythenkritik geben ſoll — dieſe einem hoͤhern Geſetze als dem Alter der zufaͤllig erhaltenen Dichterſtellen folgen muͤſſe, und dann gewiß keinem andern, als dem auszumittelnden organiſchen und ſonach urſpruͤng- lichen Zuſammenhange eines Mythenkreiſes, aus deſſen Bildungsprinzip erſt Geneſis und Geſchichte der einzel- nen Mythen begriffen und beſtimmt werden kann. Weit leichter iſt die Aufgabe ſolcher Deduktionen bei Mythen, welche in Colonien oder denen Laͤndern ſpielen, mit welchen die Griechen erſt ſpaͤter bekannt geworden ſind, weil die auf die Mythenbildung einwir- kenden Umſtaͤnde hier mehr innerhalb des Geſichtskrei- ſes unſerer geſchichtlichen Kenntniſſe liegen. Zugleich aber erlaubt die hier beſtimmt nachweisliche Art der Entſtehung durch Analogie ruͤckwaͤrts zu ſchließen auf die Geneſis ſolcher, die außerhalb dieſes Kreiſes liegen. 5. Von Sparta, wo Herakles ganz vorzuͤglich verehrt wurde, hatte ſich das Anſehn des Dienſtes nach den Kolonien, namentlich Tarent 1 und Kroton verbreitet. In der letztern Stadt genoß Herakles ſelbſt die Ehren eines Gruͤnders 2; es ſcheint, daß man ihn auf 1 S. Heyne ad Aen. 3. Exc. 14. Daher die Kolonie He- rakleia. 2 ΟΙΚΙΣΤΑΜ auf Muͤnzen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/478
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/478>, abgerufen am 23.11.2024.