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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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IV. Indier.

1249. Das Indische Volk, das östlichste Glied des
Kaukasischen Menschenstammes, welcher hier schon sehr
gemischt erscheint, ein Volk von großen geistigen Anlagen,
welche sich in einer feinen Ausbildung der Sprache, einer
sehr alten speculativen Theologie, und einer phantasievol-
len Poesie zeigen, war doch sehr wenig geeignet die bil-
2denden Künste auf eine originale Weise auszubilden. Die
stille Beschaulichkeit früherer, die glühende und unmäßige
Phantasie späterer Zeiten fanden in dem Reiche der sinn-
lichen Gestalten und gegebnen Naturformen keinen Aus-
druck, in dessen consequenter Fortbildung sie sich genügen
3konnten; und wenn die hierarchische Verfassung und die
große Ausdauer Indischer Arbeiter in der Aushöhlung der
Grottentempel und dem Aushauen ganzer Gebürge Bewun-
dernswürdiges geleistet haben: so vermißt man doch ganz
den ordnenden Geist, der diesen Fleiß und Kraftaufwand ohne
Beispiel für große architektonische Zwecke benutzt und zu be-
4herrschen gewußt hätte. Wir sehen hier vielmehr eine
Kunst, die in einer Fülle von Formen unstät umher-
schweift, und, wenn ihr fast zufällig das Einfache und Gran-
diose gelingt, es nicht zu einer festen, wiederkehrenden
5und durchgeführten Kunstform zu nutzen weiß: so daß
man den Gedanken schwer aufgeben kann, daß vielerlei
Anregungen und Mittheilungen von außen in Indien
erst den architektonischen Sinn erweckt, und ihm eine
Nahrung dargeboten haben, die er doch nicht recht zu
verarbeiten wußte; indem dadurch der Contrast der classi-
schen Eleganz einzelner decorirender Theile mit der bar-
barischen Geschmacklosigkeit in der Verknüpfung derselben
zu architektonischen Ganzen wohl allein auf eine befriedi-
gende Weise erklärt werden kann.

IV. Indier.

1249. Das Indiſche Volk, das oͤſtlichſte Glied des
Kaukaſiſchen Menſchenſtammes, welcher hier ſchon ſehr
gemiſcht erſcheint, ein Volk von großen geiſtigen Anlagen,
welche ſich in einer feinen Ausbildung der Sprache, einer
ſehr alten ſpeculativen Theologie, und einer phantaſievol-
len Poeſie zeigen, war doch ſehr wenig geeignet die bil-
2denden Kuͤnſte auf eine originale Weiſe auszubilden. Die
ſtille Beſchaulichkeit fruͤherer, die gluͤhende und unmaͤßige
Phantaſie ſpaͤterer Zeiten fanden in dem Reiche der ſinn-
lichen Geſtalten und gegebnen Naturformen keinen Aus-
druck, in deſſen conſequenter Fortbildung ſie ſich genuͤgen
3konnten; und wenn die hierarchiſche Verfaſſung und die
große Ausdauer Indiſcher Arbeiter in der Aushoͤhlung der
Grottentempel und dem Aushauen ganzer Gebuͤrge Bewun-
dernswuͤrdiges geleiſtet haben: ſo vermißt man doch ganz
den ordnenden Geiſt, der dieſen Fleiß und Kraftaufwand ohne
Beiſpiel fuͤr große architektoniſche Zwecke benutzt und zu be-
4herrſchen gewußt haͤtte. Wir ſehen hier vielmehr eine
Kunſt, die in einer Fuͤlle von Formen unſtaͤt umher-
ſchweift, und, wenn ihr faſt zufaͤllig das Einfache und Gran-
dioſe gelingt, es nicht zu einer feſten, wiederkehrenden
5und durchgefuͤhrten Kunſtform zu nutzen weiß: ſo daß
man den Gedanken ſchwer aufgeben kann, daß vielerlei
Anregungen und Mittheilungen von außen in Indien
erſt den architektoniſchen Sinn erweckt, und ihm eine
Nahrung dargeboten haben, die er doch nicht recht zu
verarbeiten wußte; indem dadurch der Contraſt der claſſi-
ſchen Eleganz einzelner decorirender Theile mit der bar-
bariſchen Geſchmackloſigkeit in der Verknuͤpfung derſelben
zu architektoniſchen Ganzen wohl allein auf eine befriedi-
gende Weiſe erklaͤrt werden kann.

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[278/0298] IV. Indier. 249. Das Indiſche Volk, das oͤſtlichſte Glied des Kaukaſiſchen Menſchenſtammes, welcher hier ſchon ſehr gemiſcht erſcheint, ein Volk von großen geiſtigen Anlagen, welche ſich in einer feinen Ausbildung der Sprache, einer ſehr alten ſpeculativen Theologie, und einer phantaſievol- len Poeſie zeigen, war doch ſehr wenig geeignet die bil- denden Kuͤnſte auf eine originale Weiſe auszubilden. Die ſtille Beſchaulichkeit fruͤherer, die gluͤhende und unmaͤßige Phantaſie ſpaͤterer Zeiten fanden in dem Reiche der ſinn- lichen Geſtalten und gegebnen Naturformen keinen Aus- druck, in deſſen conſequenter Fortbildung ſie ſich genuͤgen konnten; und wenn die hierarchiſche Verfaſſung und die große Ausdauer Indiſcher Arbeiter in der Aushoͤhlung der Grottentempel und dem Aushauen ganzer Gebuͤrge Bewun- dernswuͤrdiges geleiſtet haben: ſo vermißt man doch ganz den ordnenden Geiſt, der dieſen Fleiß und Kraftaufwand ohne Beiſpiel fuͤr große architektoniſche Zwecke benutzt und zu be- herrſchen gewußt haͤtte. Wir ſehen hier vielmehr eine Kunſt, die in einer Fuͤlle von Formen unſtaͤt umher- ſchweift, und, wenn ihr faſt zufaͤllig das Einfache und Gran- dioſe gelingt, es nicht zu einer feſten, wiederkehrenden und durchgefuͤhrten Kunſtform zu nutzen weiß: ſo daß man den Gedanken ſchwer aufgeben kann, daß vielerlei Anregungen und Mittheilungen von außen in Indien erſt den architektoniſchen Sinn erweckt, und ihm eine Nahrung dargeboten haben, die er doch nicht recht zu verarbeiten wußte; indem dadurch der Contraſt der claſſi- ſchen Eleganz einzelner decorirender Theile mit der bar- bariſchen Geſchmackloſigkeit in der Verknuͤpfung derſelben zu architektoniſchen Ganzen wohl allein auf eine befriedi- gende Weiſe erklaͤrt werden kann. 1 2 3 4 5

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/298>, abgerufen am 24.11.2024.