329. Der Grundsatz der alten Kunst, die Umriß-1 Linien in einem möglichst einfachen Schwunge fortzufüh- ren, wodurch jene hohe Einfalt und Großheit entsteht, welche der alten Kunst besonders angehört, zeigt sich am deutlichsten in dem Griechischen Profil der Götter-2 und Heroengestalten, durch den ununterbrochenen Zug der Stirn- und Nasenlinie und die dagegen stark zurück- weichende Fläche, welche sich von dem Kinn über die Wangen in einfacher und sanfter Ründung fortzieht. Wenn dieses Profil sicher der schönen Natur entnommen,3 und keine willkührliche Erfindung oder Zusammenfügung verschiedenartiger Bestandtheile ist: so ist doch auch nicht zu läugnen, daß plastische Bedürfnisse bei dessen Aufnahme und Ausbildung einwirkten; indem namentlich der scharfe Superciliarbogen und das starke Zurücktreten der Augen und Wangen, welches in der Alexandrinischen Periode oft übertrieben wurde, dazu da ist, eine das Leben des Au- ges ersetzende Lichtwirkung hervorzubringen. Der Stirn,4 welche in einem ununterbrochnen Bogen von den Haaren eingefaßt wird, mißt der Griechische Nationalgeschmack eine geringe Höhe zu, daher sie oft durch Binden ab- sichtlich verkürzt wird; in der Regel in einer sanften Wöl- bung vortretend, schwillt sie nur bei Charakteren von ausnehmender Kraftfülle in mächtigen Protuberanzen über dem innern Augenwinkel empor. Der feinabgewogne Schwung des Superciliarbogens drückt auch an den Sta- tuen, bei denen keine Augenbraunen angegeben wurden, die schöne Form derselben aus (ophruon to eugrammon §. 127, 4). Die Normal-Nase, welche jene5 grade Richtung und gewöhnlich einen scharf bezeichneten flachen Rücken hat, liegt in der Mitte zwischen der Ad- lersnase, dem grupon, und der aufgestülpten, gepletsch- ten Nase, dem simon. Letztres galt zwar im Ganzen als häßlich, und wurde zu einer barbarischen Bildung gerechnet; wie es indessen die Griechen auch als allge-
II. Bildende Kunſt. Formen.
2. Behandlung des Geſichts.
329. Der Grundſatz der alten Kunſt, die Umriß-1 Linien in einem moͤglichſt einfachen Schwunge fortzufuͤh- ren, wodurch jene hohe Einfalt und Großheit entſteht, welche der alten Kunſt beſonders angehoͤrt, zeigt ſich am deutlichſten in dem Griechiſchen Profil der Goͤtter-2 und Heroengeſtalten, durch den ununterbrochenen Zug der Stirn- und Naſenlinie und die dagegen ſtark zuruͤck- weichende Flaͤche, welche ſich von dem Kinn uͤber die Wangen in einfacher und ſanfter Ruͤndung fortzieht. Wenn dieſes Profil ſicher der ſchoͤnen Natur entnommen,3 und keine willkuͤhrliche Erfindung oder Zuſammenfuͤgung verſchiedenartiger Beſtandtheile iſt: ſo iſt doch auch nicht zu laͤugnen, daß plaſtiſche Beduͤrfniſſe bei deſſen Aufnahme und Ausbildung einwirkten; indem namentlich der ſcharfe Superciliarbogen und das ſtarke Zuruͤcktreten der Augen und Wangen, welches in der Alexandriniſchen Periode oft uͤbertrieben wurde, dazu da iſt, eine das Leben des Au- ges erſetzende Lichtwirkung hervorzubringen. Der Stirn,4 welche in einem ununterbrochnen Bogen von den Haaren eingefaßt wird, mißt der Griechiſche Nationalgeſchmack eine geringe Hoͤhe zu, daher ſie oft durch Binden ab- ſichtlich verkuͤrzt wird; in der Regel in einer ſanften Woͤl- bung vortretend, ſchwillt ſie nur bei Charakteren von ausnehmender Kraftfuͤlle in maͤchtigen Protuberanzen uͤber dem innern Augenwinkel empor. Der feinabgewogne Schwung des Superciliarbogens druͤckt auch an den Sta- tuen, bei denen keine Augenbraunen angegeben wurden, die ſchoͤne Form derſelben aus (ὀφρύων τὸ εὔγραμμον §. 127, 4). Die Normal-Naſe, welche jene5 grade Richtung und gewoͤhnlich einen ſcharf bezeichneten flachen Ruͤcken hat, liegt in der Mitte zwiſchen der Ad- lersnaſe, dem γρυπὸν, und der aufgeſtuͤlpten, gepletſch- ten Naſe, dem σιμόν. Letztres galt zwar im Ganzen als haͤßlich, und wurde zu einer barbariſchen Bildung gerechnet; wie es indeſſen die Griechen auch als allge-
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II. Bildende Kunſt. Formen.
2. Behandlung des Geſichts.
329. Der Grundſatz der alten Kunſt, die Umriß-
Linien in einem moͤglichſt einfachen Schwunge fortzufuͤh-
ren, wodurch jene hohe Einfalt und Großheit entſteht,
welche der alten Kunſt beſonders angehoͤrt, zeigt ſich am
deutlichſten in dem Griechiſchen Profil der Goͤtter-
und Heroengeſtalten, durch den ununterbrochenen Zug
der Stirn- und Naſenlinie und die dagegen ſtark zuruͤck-
weichende Flaͤche, welche ſich von dem Kinn uͤber die
Wangen in einfacher und ſanfter Ruͤndung fortzieht.
Wenn dieſes Profil ſicher der ſchoͤnen Natur entnommen,
und keine willkuͤhrliche Erfindung oder Zuſammenfuͤgung
verſchiedenartiger Beſtandtheile iſt: ſo iſt doch auch nicht
zu laͤugnen, daß plaſtiſche Beduͤrfniſſe bei deſſen Aufnahme
und Ausbildung einwirkten; indem namentlich der ſcharfe
Superciliarbogen und das ſtarke Zuruͤcktreten der Augen
und Wangen, welches in der Alexandriniſchen Periode oft
uͤbertrieben wurde, dazu da iſt, eine das Leben des Au-
ges erſetzende Lichtwirkung hervorzubringen. Der Stirn,
welche in einem ununterbrochnen Bogen von den Haaren
eingefaßt wird, mißt der Griechiſche Nationalgeſchmack
eine geringe Hoͤhe zu, daher ſie oft durch Binden ab-
ſichtlich verkuͤrzt wird; in der Regel in einer ſanften Woͤl-
bung vortretend, ſchwillt ſie nur bei Charakteren von
ausnehmender Kraftfuͤlle in maͤchtigen Protuberanzen uͤber
dem innern Augenwinkel empor. Der feinabgewogne
Schwung des Superciliarbogens druͤckt auch an den Sta-
tuen, bei denen keine Augenbraunen angegeben wurden,
die ſchoͤne Form derſelben aus (ὀφρύων τὸ εὔγραμμον
§. 127, 4). Die Normal-Naſe, welche jene
grade Richtung und gewoͤhnlich einen ſcharf bezeichneten
flachen Ruͤcken hat, liegt in der Mitte zwiſchen der Ad-
lersnaſe, dem γρυπὸν, und der aufgeſtuͤlpten, gepletſch-
ten Naſe, dem σιμόν. Letztres galt zwar im Ganzen
als haͤßlich, und wurde zu einer barbariſchen Bildung
gerechnet; wie es indeſſen die Griechen auch als allge-
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/427>, abgerufen am 22.11.2024.
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