1335. Eben so wichtig, wie die bleibenden Formen, welche den Charakter bestimmen, ist es natürlich, die vorübergehenden Mienen und Geberden, welche den Aus- druck hervorbringen, in ihrer Bedeutung kennen zu ler- nen. Wenn hierin Vieles allgemein menschlich ist und uns nothwendig erscheint: so ist Andres dagegen aus den besondern Ansichten und Sitten der Nation abgeleitet, positiver Art. Hier ist unendlich Viel, wie für den Künst- ler am Leben, so nun wieder für die Wissenschaft an 2den Kunstwerken, zu lernen, zu errathen. Im Gesicht schien den Alten, außer den Augen, die Superciliarwöl- bung, durch welche gewährt aber auch verneint wird (kataneuetai, ananeuetai, annuitur, renuitur), be- sonders für Ernst und Stolz, die Nase für Zorn und 3Hohn bezeichnend. Die Lage des Arms über dem Kopf bezeichnet Ruhe, noch tiefere wenn beide über den 4Kopf geschlagen sind; eine gewisse Art den rechten Arm auszustrecken und zu erheben bezeichnet im Allgemeinen den Redner; auch der Adorirende, der Supplicirende, der heftig Trauernde (koptomenos, plangens) sind durch Arm- 5und Handbewegung kenntlich. Das Ineinandergreifen der Hände über dem Knie kann, nach Maßgabe der übri- gen Haltung des Körpers, düstre Niedergeschlagenheit, 6aber auch sich wiegende Behaglichkeit ausdrücken. Das Ausstrecken der Hand mit nach oben gerichteter innrer Fläche (kheir uptia) ist die Geberde des Empfangens; 7mit umgedrehter des Schützens (uperkheirios). Das Wölben der Hand über den Augen bezeichnet den Hinaus- schauenden oder eifrig Zuschauenden, es war eine in der 8alten Tanzkunst und Plastik sehr beliebte Geberde. Das Uebereinanderschlagen der Füße bei einer stehenden und gestützten Lage scheint im Ganzen Ruhe und Festigkeit zu bezeichnen. Den Schutzflehenden und Demüthigen bezeichnet nicht blos das Niederwerfen, sondern auch schon
Syſtematiſcher Theil.
7. Der Koͤrper und die Geſichtszuͤge in Bewegung.
1335. Eben ſo wichtig, wie die bleibenden Formen, welche den Charakter beſtimmen, iſt es natuͤrlich, die voruͤbergehenden Mienen und Geberden, welche den Aus- druck hervorbringen, in ihrer Bedeutung kennen zu ler- nen. Wenn hierin Vieles allgemein menſchlich iſt und uns nothwendig erſcheint: ſo iſt Andres dagegen aus den beſondern Anſichten und Sitten der Nation abgeleitet, poſitiver Art. Hier iſt unendlich Viel, wie fuͤr den Kuͤnſt- ler am Leben, ſo nun wieder fuͤr die Wiſſenſchaft an 2den Kunſtwerken, zu lernen, zu errathen. Im Geſicht ſchien den Alten, außer den Augen, die Superciliarwoͤl- bung, durch welche gewaͤhrt aber auch verneint wird (κατανεύεται, ἀνανεύεται, annuitur, renuitur), be- ſonders fuͤr Ernſt und Stolz, die Naſe fuͤr Zorn und 3Hohn bezeichnend. Die Lage des Arms uͤber dem Kopf bezeichnet Ruhe, noch tiefere wenn beide uͤber den 4Kopf geſchlagen ſind; eine gewiſſe Art den rechten Arm auszuſtrecken und zu erheben bezeichnet im Allgemeinen den Redner; auch der Adorirende, der Supplicirende, der heftig Trauernde (κοπτόμενος, plangens) ſind durch Arm- 5und Handbewegung kenntlich. Das Ineinandergreifen der Haͤnde uͤber dem Knie kann, nach Maßgabe der uͤbri- gen Haltung des Koͤrpers, duͤſtre Niedergeſchlagenheit, 6aber auch ſich wiegende Behaglichkeit ausdruͤcken. Das Ausſtrecken der Hand mit nach oben gerichteter innrer Flaͤche (χεὶρ ὑπτία) iſt die Geberde des Empfangens; 7mit umgedrehter des Schuͤtzens (ὑπερχείριος). Das Woͤlben der Hand uͤber den Augen bezeichnet den Hinaus- ſchauenden oder eifrig Zuſchauenden, es war eine in der 8alten Tanzkunſt und Plaſtik ſehr beliebte Geberde. Das Uebereinanderſchlagen der Fuͤße bei einer ſtehenden und geſtuͤtzten Lage ſcheint im Ganzen Ruhe und Feſtigkeit zu bezeichnen. Den Schutzflehenden und Demuͤthigen bezeichnet nicht blos das Niederwerfen, ſondern auch ſchon
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Syſtematiſcher Theil.
7. Der Koͤrper und die Geſichtszuͤge in Bewegung.
335. Eben ſo wichtig, wie die bleibenden Formen,
welche den Charakter beſtimmen, iſt es natuͤrlich, die
voruͤbergehenden Mienen und Geberden, welche den Aus-
druck hervorbringen, in ihrer Bedeutung kennen zu ler-
nen. Wenn hierin Vieles allgemein menſchlich iſt und
uns nothwendig erſcheint: ſo iſt Andres dagegen aus den
beſondern Anſichten und Sitten der Nation abgeleitet,
poſitiver Art. Hier iſt unendlich Viel, wie fuͤr den Kuͤnſt-
ler am Leben, ſo nun wieder fuͤr die Wiſſenſchaft an
den Kunſtwerken, zu lernen, zu errathen. Im Geſicht
ſchien den Alten, außer den Augen, die Superciliarwoͤl-
bung, durch welche gewaͤhrt aber auch verneint wird
(κατανεύεται, ἀνανεύεται, annuitur, renuitur), be-
ſonders fuͤr Ernſt und Stolz, die Naſe fuͤr Zorn und
Hohn bezeichnend. Die Lage des Arms uͤber dem
Kopf bezeichnet Ruhe, noch tiefere wenn beide uͤber den
Kopf geſchlagen ſind; eine gewiſſe Art den rechten Arm
auszuſtrecken und zu erheben bezeichnet im Allgemeinen
den Redner; auch der Adorirende, der Supplicirende, der
heftig Trauernde (κοπτόμενος, plangens) ſind durch Arm-
und Handbewegung kenntlich. Das Ineinandergreifen
der Haͤnde uͤber dem Knie kann, nach Maßgabe der uͤbri-
gen Haltung des Koͤrpers, duͤſtre Niedergeſchlagenheit,
aber auch ſich wiegende Behaglichkeit ausdruͤcken. Das
Ausſtrecken der Hand mit nach oben gerichteter innrer
Flaͤche (χεὶρ ὑπτία) iſt die Geberde des Empfangens;
mit umgedrehter des Schuͤtzens (ὑπερχείριος). Das
Woͤlben der Hand uͤber den Augen bezeichnet den Hinaus-
ſchauenden oder eifrig Zuſchauenden, es war eine in der
alten Tanzkunſt und Plaſtik ſehr beliebte Geberde. Das
Uebereinanderſchlagen der Fuͤße bei einer ſtehenden und
geſtuͤtzten Lage ſcheint im Ganzen Ruhe und Feſtigkeit
zu bezeichnen. Den Schutzflehenden und Demuͤthigen
bezeichnet nicht blos das Niederwerfen, ſondern auch ſchon
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/438>, abgerufen am 22.11.2024.
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