Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_094.001 Wenn man liest: "die Nacht breitete ihre weichen Flügel aus", so liegt der pmu_094.003 poetische Wert dieser Metapher zum Teil in dem Gefühlston des Luftigen, pmu_094.004 Leichten, den wir mit "Flügel" verbinden. [Annotation] Zum Teil aber liegt ein pmu_094.005 Reiz aller metaphorischen Ausdrücke, auch der ganz zu Begriffen gewordenen, pmu_094.006 in der Besonderheit der Wortwahl, einer gewissen Neuheit, Abwechslung, pmu_094.007 die ihrerseits wieder Lustgefühle weckt. [Annotation] Die Personifikation ist eine besondere Form der Metapher. Niemand pmu_094.009 Wenn ich lese "Kunst und Wissenschaft gehen Hand in Hand", so liegt hier pmu_094.015 eine Erstarrung vor, denn niemand personifiziert wohl hier in seiner Vorstellung pmu_094.016 wirklich Kunst und Wissenschaft. [Annotation] pmu_094.017 Dort aber, wo das Bewußtsein einer Personifikation noch erhalten ist, pmu_094.018 Als zweite Stufe gilt mir die anschauliche Personifikation, wo ein pmu_094.028 "Schön ist der Friede! Ein lieblicher Knabe pmu_094.031 pmu_094.034Liegt er gelagert am ruhigen Bach, pmu_094.032 Und die hüpfenden Lämmer grasen pmu_094.033 Lustig um ihn auf dem sonnigten Rasen usw. Dieser Grad der Personifikation sucht nur auf Anschauung und Gefühl pmu_094.035 Die Allegorie kann nur mit Hilfe der Reflexion erfaßt werden. Die pmu_094.038 pmu_094.001 Wenn man liest: „die Nacht breitete ihre weichen Flügel aus“, so liegt der pmu_094.003 poetische Wert dieser Metapher zum Teil in dem Gefühlston des Luftigen, pmu_094.004 Leichten, den wir mit „Flügel“ verbinden. [Annotation] Zum Teil aber liegt ein pmu_094.005 Reiz aller metaphorischen Ausdrücke, auch der ganz zu Begriffen gewordenen, pmu_094.006 in der Besonderheit der Wortwahl, einer gewissen Neuheit, Abwechslung, pmu_094.007 die ihrerseits wieder Lustgefühle weckt. [Annotation] Die Personifikation ist eine besondere Form der Metapher. Niemand pmu_094.009 Wenn ich lese „Kunst und Wissenschaft gehen Hand in Hand“, so liegt hier pmu_094.015 eine Erstarrung vor, denn niemand personifiziert wohl hier in seiner Vorstellung pmu_094.016 wirklich Kunst und Wissenschaft. [Annotation] pmu_094.017 Dort aber, wo das Bewußtsein einer Personifikation noch erhalten ist, pmu_094.018 Als zweite Stufe gilt mir die anschauliche Personifikation, wo ein pmu_094.028 „Schön ist der Friede! Ein lieblicher Knabe pmu_094.031 pmu_094.034Liegt er gelagert am ruhigen Bach, pmu_094.032 Und die hüpfenden Lämmer grasen pmu_094.033 Lustig um ihn auf dem sonnigten Rasen usw. Dieser Grad der Personifikation sucht nur auf Anschauung und Gefühl pmu_094.035 Die Allegorie kann nur mit Hilfe der Reflexion erfaßt werden. 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Oft ist auch die Personifikation <lb n="pmu_094.013"/> völlig zum Begriff erstarrt, wie jede andre Metapher es sein kann. <anchor xml:id="mu054"/> <note targetEnd="#mu054" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-7-2-4 #m1-9-2" target="#mu053"/> <lb n="pmu_094.014"/> <anchor xml:id="mu055"/> Wenn ich lese „Kunst und Wissenschaft gehen Hand in Hand“, so liegt hier <lb n="pmu_094.015"/> eine Erstarrung vor, denn niemand personifiziert wohl hier in seiner Vorstellung <lb n="pmu_094.016"/> wirklich Kunst und Wissenschaft. <anchor xml:id="mu056"/> <note targetEnd="#mu056" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-7-2-4 #m1-9-2" target="#mu055"> sehr geläufiges Beispiel, nicht auf bestimmte Quelle zurückführbar, daher als Poetikentext ausgezeichnet </note> </p> <lb n="pmu_094.017"/> <p> Dort aber, wo das Bewußtsein einer Personifikation noch erhalten ist, <lb n="pmu_094.018"/> wo es auf den Leser in solcher Weise wirkt, lassen sich drei verschiedene <lb n="pmu_094.019"/> Stufen unterscheiden, je nach dem Grade, in dem die Personifikation <lb n="pmu_094.020"/> ausgeführt ist und psychologisch wirkt. Als erste Stufe nehme ich die der <lb n="pmu_094.021"/> <hi rendition="#g">einfachen Belebung,</hi> wo Dinge oder Abstrakta als lebend eingeführt <lb n="pmu_094.022"/> werden, ohne daß ein Anhalt für die anschauliche Vorstellung im einzelnen <lb n="pmu_094.023"/> gegeben wird. Wenn Goethe ausruft, „Süßer Friede, komm, <lb n="pmu_094.024"/> ach komm in meine Brust!“ so ist es nicht nötig, daß er den „Frieden“ <lb n="pmu_094.025"/> wirklich anschaulich personifiziert hat, und auch der Leser erhält keinerlei Anweisung <lb n="pmu_094.026"/> dazu. Hier handelt es sich um einfache Belebung eines Abstraktums.</p> <lb n="pmu_094.027"/> <p> Als zweite Stufe gilt mir die <hi rendition="#g">anschauliche Personifikation,</hi> wo ein <lb n="pmu_094.028"/> wirkliches Bild eines lebendigen Wesens ausgemalt wird. Eine solche anschauliche <lb n="pmu_094.029"/> Personifikation ist Schillers Bild aus der Braut von Messina:</p> <lb n="pmu_094.030"/> <lg> <l>„Schön ist der Friede! 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mit, der auch dort bleibt, wo der anschauliche Jnhalt nicht mehr wirkt. pmu_094.002
Wenn man liest: „die Nacht breitete ihre weichen Flügel aus“, so liegt der pmu_094.003
poetische Wert dieser Metapher zum Teil in dem Gefühlston des Luftigen, pmu_094.004
Leichten, den wir mit „Flügel“ verbinden. offenbar eigenes Beispiel, trotz starker Ähnlichkeit mit Eichendorff: Mondnacht" Zum Teil aber liegt ein pmu_094.005
Reiz aller metaphorischen Ausdrücke, auch der ganz zu Begriffen gewordenen, pmu_094.006
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die ihrerseits wieder Lustgefühle weckt.
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Die Personifikation ist eine besondere Form der Metapher. Niemand pmu_094.009
wird zweifeln, daß das „Vermenschlichen“ alles Nichtmenschlichen pmu_094.010
einem tiefen Zug unsrer Natur entspricht. Wir sehen es am deutlichsten pmu_094.011
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wir verschiedene Grade der Personifikation. Oft ist auch die Personifikation pmu_094.013
völlig zum Begriff erstarrt, wie jede andre Metapher es sein kann. pmu_094.014
Wenn ich lese „Kunst und Wissenschaft gehen Hand in Hand“, so liegt hier pmu_094.015
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wirklich Kunst und Wissenschaft. sehr geläufiges Beispiel, nicht auf bestimmte Quelle zurückführbar, daher als Poetikentext ausgezeichnet
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Dort aber, wo das Bewußtsein einer Personifikation noch erhalten ist, pmu_094.018
wo es auf den Leser in solcher Weise wirkt, lassen sich drei verschiedene pmu_094.019
Stufen unterscheiden, je nach dem Grade, in dem die Personifikation pmu_094.020
ausgeführt ist und psychologisch wirkt. Als erste Stufe nehme ich die der pmu_094.021
einfachen Belebung, wo Dinge oder Abstrakta als lebend eingeführt pmu_094.022
werden, ohne daß ein Anhalt für die anschauliche Vorstellung im einzelnen pmu_094.023
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ach komm in meine Brust!“ so ist es nicht nötig, daß er den „Frieden“ pmu_094.025
wirklich anschaulich personifiziert hat, und auch der Leser erhält keinerlei Anweisung pmu_094.026
dazu. Hier handelt es sich um einfache Belebung eines Abstraktums.
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Als zweite Stufe gilt mir die anschauliche Personifikation, wo ein pmu_094.028
wirkliches Bild eines lebendigen Wesens ausgemalt wird. Eine solche anschauliche pmu_094.029
Personifikation ist Schillers Bild aus der Braut von Messina:
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„Schön ist der Friede! Ein lieblicher Knabe pmu_094.031
Liegt er gelagert am ruhigen Bach, pmu_094.032
Und die hüpfenden Lämmer grasen pmu_094.033
Lustig um ihn auf dem sonnigten Rasen usw.
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so haben wir es mit der dritten Stufe zu tun, der Allegorie.
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Die Allegorie kann nur mit Hilfe der Reflexion erfaßt werden. Die pmu_094.038
Attribute, die Schiller in unserm Beispiel dem Frieden zuerteilt, wirken
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