Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_097.001 3. Wir halten es nicht einmal für wünschenswert, ewige Gesetze und pmu_097.026 pmu_097.001 3. Wir halten es nicht einmal für wünschenswert, ewige Gesetze und pmu_097.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0107" n="97"/><lb n="pmu_097.001"/> im überindividuellen Sinne gilt, was seine Bedeutung weithin und dauernd <lb n="pmu_097.002"/> zu dokumentieren vermag, so kann auch in der Kunst nur das beanspruchen, <lb n="pmu_097.003"/> als Wert angesehen zu werden, was vielen Menschen und vor <lb n="pmu_097.004"/> allem dauernd sich als Wert zu erweisen vermag. Damit ist schon ein Prinzip <lb n="pmu_097.005"/> gegeben, das über einen bloß willkürlichen Subjektivismus hinausführt. <lb n="pmu_097.006"/> Daneben freilich kommen noch andre Wertkriterien in Betracht. So verwendet <lb n="pmu_097.007"/> die Literaturgeschichte vor allem das Prinzip der <hi rendition="#g">Originalität,</hi> <lb n="pmu_097.008"/> um danach eine Stufenleiter der Werte zu schaffen. Sehr wichtig ist ferner <lb n="pmu_097.009"/> das Prinzip der <hi rendition="#g">Autorität,</hi> worunter ich verstehe, daß auch die Qualität <lb n="pmu_097.010"/> der Subjekte höchst wichtig ist, indem nämlich besonders befähigte <lb n="pmu_097.011"/> Menschen, die eine große, vor allem natürlich <hi rendition="#g">ästhetische</hi> Erfahrung haben, <lb n="pmu_097.012"/> für andre in ihrem Werturteil Autorität waren und dadurch stark <lb n="pmu_097.013"/> auf die allgemeine Bewertung eingewirkt haben. Daneben kommen für <lb n="pmu_097.014"/> die Gesamtbewertung ästhetischer Werke auch <hi rendition="#g">nichtästhetische</hi> Momente, <lb n="pmu_097.015"/> vor allem ethische, religiöse, soziale in Betracht, die auch die ästhetische <lb n="pmu_097.016"/> Bewertung beeinflussen, denn gerade für die Wirkung der Dichtung sind <lb n="pmu_097.017"/> ja diese Dinge, wie wir oben gezeigt haben, von höchster Wichtigkeit, und <lb n="pmu_097.018"/> die historische Betrachtung zeigt, daß niemals rein ästhetische Momente <lb n="pmu_097.019"/> den Ausschlag gegeben haben für die Wirkung einer Dichtung. Es hieße <lb n="pmu_097.020"/> dem Leben Gewalt antun, wollte man da unüberschreitbare Grenzen <lb n="pmu_097.021"/> ziehen, wo in Wirklichkeit eine große, tief verflochtene Einheit gegeben <lb n="pmu_097.022"/> ist. Nicht einen Mangel sehen wir — wie das manche Ästheten tun — in <lb n="pmu_097.023"/> jener Verknüpftheit mit andern Gebieten, sondern gerade einen Reichtum <lb n="pmu_097.024"/> und einen besonderen Wert der Dichtkunst.</p> <lb n="pmu_097.025"/> </div> <div n="3"> <p> 3. Wir halten es nicht einmal für wünschenswert, ewige Gesetze und <lb n="pmu_097.026"/> allgemeingültige Normen aufzustellen. Denn einmal verzichteten wir damit <lb n="pmu_097.027"/> ja darauf, den beständig sich ändernden Bedürfnissen der Menschen <lb n="pmu_097.028"/> gerecht zu werden, da allgemeingültige Normen auch nur für einen Normalmenschen <lb n="pmu_097.029"/> zugeschnitten sein könnten, den es nirgends gibt. Andrerseits <lb n="pmu_097.030"/> würde es zu einer unerquicklichen Verlogenheit führen, wenn wirklich <lb n="pmu_097.031"/> ein ästhetisches Gesetzbuch sich Geltung verschaffte. Ein Gesetzbuch für <lb n="pmu_097.032"/> unser moralisches Leben ist möglich und nötig, weil wir unser Handeln <lb n="pmu_097.033"/> bis zu einem gewissen Grade modifizieren können und müssen, obwohl die <lb n="pmu_097.034"/> Geschichte zeigt, daß auch hier nur die gröbsten Vorschriften zur Not erfüllt <lb n="pmu_097.035"/> werden. Ein ästhetisches Gesetzbuch wäre durchaus vom Übel, denn <lb n="pmu_097.036"/> einerseits ist unser ästhetisches Gefühlsleben noch viel weniger der Formung <lb n="pmu_097.037"/> zugänglich als das moralische, andrerseits aber ginge durch solche <lb n="pmu_097.038"/> Normierung gerade der feinste Reiz aller Kunst verloren, der nämlich, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [97/0107]
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im überindividuellen Sinne gilt, was seine Bedeutung weithin und dauernd pmu_097.002
zu dokumentieren vermag, so kann auch in der Kunst nur das beanspruchen, pmu_097.003
als Wert angesehen zu werden, was vielen Menschen und vor pmu_097.004
allem dauernd sich als Wert zu erweisen vermag. Damit ist schon ein Prinzip pmu_097.005
gegeben, das über einen bloß willkürlichen Subjektivismus hinausführt. pmu_097.006
Daneben freilich kommen noch andre Wertkriterien in Betracht. So verwendet pmu_097.007
die Literaturgeschichte vor allem das Prinzip der Originalität, pmu_097.008
um danach eine Stufenleiter der Werte zu schaffen. Sehr wichtig ist ferner pmu_097.009
das Prinzip der Autorität, worunter ich verstehe, daß auch die Qualität pmu_097.010
der Subjekte höchst wichtig ist, indem nämlich besonders befähigte pmu_097.011
Menschen, die eine große, vor allem natürlich ästhetische Erfahrung haben, pmu_097.012
für andre in ihrem Werturteil Autorität waren und dadurch stark pmu_097.013
auf die allgemeine Bewertung eingewirkt haben. Daneben kommen für pmu_097.014
die Gesamtbewertung ästhetischer Werke auch nichtästhetische Momente, pmu_097.015
vor allem ethische, religiöse, soziale in Betracht, die auch die ästhetische pmu_097.016
Bewertung beeinflussen, denn gerade für die Wirkung der Dichtung sind pmu_097.017
ja diese Dinge, wie wir oben gezeigt haben, von höchster Wichtigkeit, und pmu_097.018
die historische Betrachtung zeigt, daß niemals rein ästhetische Momente pmu_097.019
den Ausschlag gegeben haben für die Wirkung einer Dichtung. Es hieße pmu_097.020
dem Leben Gewalt antun, wollte man da unüberschreitbare Grenzen pmu_097.021
ziehen, wo in Wirklichkeit eine große, tief verflochtene Einheit gegeben pmu_097.022
ist. Nicht einen Mangel sehen wir — wie das manche Ästheten tun — in pmu_097.023
jener Verknüpftheit mit andern Gebieten, sondern gerade einen Reichtum pmu_097.024
und einen besonderen Wert der Dichtkunst.
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3. Wir halten es nicht einmal für wünschenswert, ewige Gesetze und pmu_097.026
allgemeingültige Normen aufzustellen. Denn einmal verzichteten wir damit pmu_097.027
ja darauf, den beständig sich ändernden Bedürfnissen der Menschen pmu_097.028
gerecht zu werden, da allgemeingültige Normen auch nur für einen Normalmenschen pmu_097.029
zugeschnitten sein könnten, den es nirgends gibt. Andrerseits pmu_097.030
würde es zu einer unerquicklichen Verlogenheit führen, wenn wirklich pmu_097.031
ein ästhetisches Gesetzbuch sich Geltung verschaffte. Ein Gesetzbuch für pmu_097.032
unser moralisches Leben ist möglich und nötig, weil wir unser Handeln pmu_097.033
bis zu einem gewissen Grade modifizieren können und müssen, obwohl die pmu_097.034
Geschichte zeigt, daß auch hier nur die gröbsten Vorschriften zur Not erfüllt pmu_097.035
werden. Ein ästhetisches Gesetzbuch wäre durchaus vom Übel, denn pmu_097.036
einerseits ist unser ästhetisches Gefühlsleben noch viel weniger der Formung pmu_097.037
zugänglich als das moralische, andrerseits aber ginge durch solche pmu_097.038
Normierung gerade der feinste Reiz aller Kunst verloren, der nämlich,
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