Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_005.001 4. Der Theorie nach will der Naturalismus uns ein Erleben schaffen, pmu_005.005 Als Gegensatz zum Naturalismus gilt oberflächlichen Beobachtern die pmu_005.037 pmu_005.001 4. Der Theorie nach will der Naturalismus uns ein Erleben schaffen, pmu_005.005 Als Gegensatz zum Naturalismus gilt oberflächlichen Beobachtern die pmu_005.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0015" n="5"/><lb n="pmu_005.001"/><hi rendition="#g">Grad</hi>unterschiede handelt und daß z. B. auch in Naturalismus und Romantik <lb n="pmu_005.002"/> gewisse idealisierende Elemente stecken, die nur nicht zu bewußter <lb n="pmu_005.003"/> und klarer Entfaltung gekommen sind.</p> <lb n="pmu_005.004"/> </div> <div n="3"> <p> 4. Der Theorie nach will der <hi rendition="#g">Naturalismus</hi> uns ein Erleben schaffen, <lb n="pmu_005.005"/> das auf jede qualitative Verarbeitung verzichtet. Die Kunst soll „Natur“ <lb n="pmu_005.006"/> sein, sie soll unserm gelebten Leben nur ein Stück künstliches an die Seite <lb n="pmu_005.007"/> rücken. So wenigstens haben die ganz konsequenten Theoretiker, wie <lb n="pmu_005.008"/> Arno Holz, es gewollt. Jndessen zeigt die Betrachtung aller sich naturalistisch <lb n="pmu_005.009"/> nennenden Kunstwerke, daß ganz konsequent jenes Prinzip überhaupt <lb n="pmu_005.010"/> nie durchgeführt ist. Wo man dieses versucht hat, wie bei den <lb n="pmu_005.011"/> Holz-Schlafschen Experimenten, hat man zwar eine beträchtliche Langeweile, <lb n="pmu_005.012"/> aber nicht absolute Naturwahrheit erreicht. Der Grund dafür liegt <lb n="pmu_005.013"/> in einem logischen Fehler jedes konsequenten Naturalismus; er übersieht, <lb n="pmu_005.014"/> daß auch die „Natur“ kein Absolutes ist, sondern stets nur durch das <lb n="pmu_005.015"/> Medium unsrer Subjektivität gegeben ist, daß demnach auch eine Kunst, <lb n="pmu_005.016"/> die jene Natur nachbildet, noch weniger etwas rein Objektives sein kann. <lb n="pmu_005.017"/> Damit aber ist stets schon ein qualitativ verändernder Faktor gegeben. <lb n="pmu_005.018"/> Zola war darum klüger als Holz, wenn er als Ziel des Naturalismus <lb n="pmu_005.019"/> die Darstellung eines Naturausschnitts, der „durch ein Temperament gesehen <lb n="pmu_005.020"/> ist“, bezeichnet. Jn der Tat ergibt eine Analyse naturalistischer <lb n="pmu_005.021"/> Kunstwerke eine ganze Reihe qualitativer Veränderungen der gewöhnlichen <lb n="pmu_005.022"/> Wirklichkeit gegenüber: so verwenden alle Naturalisten die <hi rendition="#g">zeitliche <lb n="pmu_005.023"/> Konzentration,</hi> auch <hi rendition="#g">wählen sie aus</hi> unter den Motiven, und <lb n="pmu_005.024"/> eine solche Auswahl ist bereits eine Stilisierung, ja in den meisten Fällen <lb n="pmu_005.025"/> zeigt sich auch dort, wo die Tendenz zur Naturnachahmung bestand, bei <lb n="pmu_005.026"/> genauem Hinsehen eine ganz bestimmte <hi rendition="#g">Form</hi>gebung. Historisch betrachtet, <lb n="pmu_005.027"/> sind die Naturalisten meist nur Rebellen gegen eine erstarrte <lb n="pmu_005.028"/> Jdealisierung, die einer neuen idealischen Kunst den Boden bereiten, ja <lb n="pmu_005.029"/> die oft selbst schon neue Jdealisierungen durchführen. So zeigt es sich, <lb n="pmu_005.030"/> daß der Naturalismus in der Tat nur eine unausgebildete, unklare Jdealisierung <lb n="pmu_005.031"/> ist. Der Absicht nach jedoch ist er dieser feindlich, und auf die Absicht <lb n="pmu_005.032"/> kommt es für die Bestimmung der Kunsttendenz an. Dort, wo nur <lb n="pmu_005.033"/> Lebensverbreiterung gesucht wird, keine bewußte Lebenssteigerung, sprechen <lb n="pmu_005.034"/> wir von Naturalismus, auch wenn das Ziel nur unvollkommen erreicht <lb n="pmu_005.035"/> wird.</p> <lb n="pmu_005.036"/> <p> Als Gegensatz zum Naturalismus gilt oberflächlichen Beobachtern die <lb n="pmu_005.037"/> <hi rendition="#g">Romantik.</hi> Jndessen wurde schon gesagt, daß dieser Gegensatz nur stofflich <lb n="pmu_005.038"/> ist, nicht in der künstlerischen Verarbeitung der Wirklichkeit beruht. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [5/0015]
pmu_005.001
Gradunterschiede handelt und daß z. B. auch in Naturalismus und Romantik pmu_005.002
gewisse idealisierende Elemente stecken, die nur nicht zu bewußter pmu_005.003
und klarer Entfaltung gekommen sind.
pmu_005.004
4. Der Theorie nach will der Naturalismus uns ein Erleben schaffen, pmu_005.005
das auf jede qualitative Verarbeitung verzichtet. Die Kunst soll „Natur“ pmu_005.006
sein, sie soll unserm gelebten Leben nur ein Stück künstliches an die Seite pmu_005.007
rücken. So wenigstens haben die ganz konsequenten Theoretiker, wie pmu_005.008
Arno Holz, es gewollt. Jndessen zeigt die Betrachtung aller sich naturalistisch pmu_005.009
nennenden Kunstwerke, daß ganz konsequent jenes Prinzip überhaupt pmu_005.010
nie durchgeführt ist. Wo man dieses versucht hat, wie bei den pmu_005.011
Holz-Schlafschen Experimenten, hat man zwar eine beträchtliche Langeweile, pmu_005.012
aber nicht absolute Naturwahrheit erreicht. Der Grund dafür liegt pmu_005.013
in einem logischen Fehler jedes konsequenten Naturalismus; er übersieht, pmu_005.014
daß auch die „Natur“ kein Absolutes ist, sondern stets nur durch das pmu_005.015
Medium unsrer Subjektivität gegeben ist, daß demnach auch eine Kunst, pmu_005.016
die jene Natur nachbildet, noch weniger etwas rein Objektives sein kann. pmu_005.017
Damit aber ist stets schon ein qualitativ verändernder Faktor gegeben. pmu_005.018
Zola war darum klüger als Holz, wenn er als Ziel des Naturalismus pmu_005.019
die Darstellung eines Naturausschnitts, der „durch ein Temperament gesehen pmu_005.020
ist“, bezeichnet. Jn der Tat ergibt eine Analyse naturalistischer pmu_005.021
Kunstwerke eine ganze Reihe qualitativer Veränderungen der gewöhnlichen pmu_005.022
Wirklichkeit gegenüber: so verwenden alle Naturalisten die zeitliche pmu_005.023
Konzentration, auch wählen sie aus unter den Motiven, und pmu_005.024
eine solche Auswahl ist bereits eine Stilisierung, ja in den meisten Fällen pmu_005.025
zeigt sich auch dort, wo die Tendenz zur Naturnachahmung bestand, bei pmu_005.026
genauem Hinsehen eine ganz bestimmte Formgebung. Historisch betrachtet, pmu_005.027
sind die Naturalisten meist nur Rebellen gegen eine erstarrte pmu_005.028
Jdealisierung, die einer neuen idealischen Kunst den Boden bereiten, ja pmu_005.029
die oft selbst schon neue Jdealisierungen durchführen. So zeigt es sich, pmu_005.030
daß der Naturalismus in der Tat nur eine unausgebildete, unklare Jdealisierung pmu_005.031
ist. Der Absicht nach jedoch ist er dieser feindlich, und auf die Absicht pmu_005.032
kommt es für die Bestimmung der Kunsttendenz an. Dort, wo nur pmu_005.033
Lebensverbreiterung gesucht wird, keine bewußte Lebenssteigerung, sprechen pmu_005.034
wir von Naturalismus, auch wenn das Ziel nur unvollkommen erreicht pmu_005.035
wird.
pmu_005.036
Als Gegensatz zum Naturalismus gilt oberflächlichen Beobachtern die pmu_005.037
Romantik. Jndessen wurde schon gesagt, daß dieser Gegensatz nur stofflich pmu_005.038
ist, nicht in der künstlerischen Verarbeitung der Wirklichkeit beruht.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |