Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_022.001 Es sei dabei an dieser Stelle zugleich noch eine andre Theorie erwähnt, pmu_022.007 4. Eines der dunkelsten Gebiete der Psychologie betreten wir, wenn pmu_022.025 pmu_022.001 Es sei dabei an dieser Stelle zugleich noch eine andre Theorie erwähnt, pmu_022.007 4. Eines der dunkelsten Gebiete der Psychologie betreten wir, wenn pmu_022.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0032" n="22"/><lb n="pmu_022.001"/> der Kunst“ den ausführlichen Beweis zu erbringen gesucht, daß auch der <lb n="pmu_022.002"/> Jnspirationszustand nur eine besonders prägnante Form von Zuständen <lb n="pmu_022.003"/> ist, die im gewöhnlichen Seelenleben oftmals vorkommen und nur unbemerkt <lb n="pmu_022.004"/> vorüberziehen, weil keinerlei innere Vorbereitung da ist, die ihn <lb n="pmu_022.005"/> fruchtbar werden läßt.</p> <lb n="pmu_022.006"/> <p> Es sei dabei an dieser Stelle zugleich noch eine andre Theorie erwähnt, <lb n="pmu_022.007"/> die viel Aufsehen gemacht hat. Jch denke an diejenige Anschauung vom <lb n="pmu_022.008"/> Wesen des Dichters, die die dichterische Begabung als eine Form des <lb n="pmu_022.009"/> <hi rendition="#g">Wahnsinns</hi> hinstellt oder wenigstens jede übernormale Begabung der <lb n="pmu_022.010"/> Pathologie naherückt. Eine scheinbare Stütze erhält diese Lehre durch die <lb n="pmu_022.011"/> unbestreitbare Tatsache, daß viele Poeten in der Tat dem Wahnsinn später <lb n="pmu_022.012"/> verfallen sind. Das aber beweist in Wahrheit nur, daß jene intensive <lb n="pmu_022.013"/> Erlebnisfähigkeit, die wir besprochen haben, leichter zu Krankheiten führt, <lb n="pmu_022.014"/> wie eben eine besonders scharf geschliffene Nadel leichter abbricht als eine <lb n="pmu_022.015"/> stumpfe. Das beweist aber nicht, daß sie abbrechen <hi rendition="#g">muß,</hi> wenn sie richtig <lb n="pmu_022.016"/> verwandt wird; ebensowenig ist das Erkranken der hochsensiblen Dichternaturen <lb n="pmu_022.017"/> eine Notwendigkeit, sondern oft nur durch widrige Lebensverhältnisse <lb n="pmu_022.018"/> hervorgerufen, denen sie nicht gewachsen waren. Richtig ist auch, daß <lb n="pmu_022.019"/> manche schon ausgesprochen pathologische Zustände für die Materiallieferung <lb n="pmu_022.020"/> zum Schaffen sehr günstig sein können (Trinkerphantasien bei Poe, <lb n="pmu_022.021"/> Baudelaire). Trotzdem beweist ihre Ausgestaltung zu Kunstwerken, daß <lb n="pmu_022.022"/> der Dichter noch im vollen Besitz seiner geistigen Funktionen war, denn <lb n="pmu_022.023"/> die poetische Arbeit erfordert alle Fähigkeiten des Geistes.</p> <lb n="pmu_022.024"/> </div> <div n="3"> <p> 4. Eines der dunkelsten Gebiete der Psychologie betreten wir, wenn <lb n="pmu_022.025"/> wir uns nunmehr dem Probleme der <hi rendition="#g">Bildung der dichterischen Persönlichkeit</hi> <lb n="pmu_022.026"/> zuwenden, das wiederum nur ein Teil des Problems von <lb n="pmu_022.027"/> der Bildung der Persönlichkeit überhaupt ist. Auch hier wird nur jemand, <lb n="pmu_022.028"/> der nie hineingeblickt hat in die unendliche Verflochtenheit der menschlichen <lb n="pmu_022.029"/> Seele, einen einheitlichen Leisten verlangen, über den alles sich <lb n="pmu_022.030"/> solle schustern lassen. Auch hier wird unsre Aufgabe sein, nicht alles auf <lb n="pmu_022.031"/> ein Schema zu bringen, sondern im Gegenteil die Fülle der Verschiedenheiten <lb n="pmu_022.032"/> wenigstens anzudeuten. Eine Zeitlang glaubte man eine einheitliche <lb n="pmu_022.033"/> Formel zu besitzen, die den Schlüssel zu allen Fragen der Jndividuation <lb n="pmu_022.034"/> abzugeben vermöchte. Taine war ihr Vater, und mit seinen Faktoren <lb n="pmu_022.035"/> wie Milieu, Rasse, Moment und spezifischer Anlage glaubte er, <lb n="pmu_022.036"/> und noch viel doktrinärer seine Schüler, jede Künstlerindividualität genau <lb n="pmu_022.037"/> bestimmen zu können. Heute glauben wohl wenige mehr an diese Formel, <lb n="pmu_022.038"/> die gewiß manche Handweise gibt, aber nirgends eine wirkliche Erklärung, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0032]
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der Kunst“ den ausführlichen Beweis zu erbringen gesucht, daß auch der pmu_022.002
Jnspirationszustand nur eine besonders prägnante Form von Zuständen pmu_022.003
ist, die im gewöhnlichen Seelenleben oftmals vorkommen und nur unbemerkt pmu_022.004
vorüberziehen, weil keinerlei innere Vorbereitung da ist, die ihn pmu_022.005
fruchtbar werden läßt.
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Es sei dabei an dieser Stelle zugleich noch eine andre Theorie erwähnt, pmu_022.007
die viel Aufsehen gemacht hat. Jch denke an diejenige Anschauung vom pmu_022.008
Wesen des Dichters, die die dichterische Begabung als eine Form des pmu_022.009
Wahnsinns hinstellt oder wenigstens jede übernormale Begabung der pmu_022.010
Pathologie naherückt. Eine scheinbare Stütze erhält diese Lehre durch die pmu_022.011
unbestreitbare Tatsache, daß viele Poeten in der Tat dem Wahnsinn später pmu_022.012
verfallen sind. Das aber beweist in Wahrheit nur, daß jene intensive pmu_022.013
Erlebnisfähigkeit, die wir besprochen haben, leichter zu Krankheiten führt, pmu_022.014
wie eben eine besonders scharf geschliffene Nadel leichter abbricht als eine pmu_022.015
stumpfe. Das beweist aber nicht, daß sie abbrechen muß, wenn sie richtig pmu_022.016
verwandt wird; ebensowenig ist das Erkranken der hochsensiblen Dichternaturen pmu_022.017
eine Notwendigkeit, sondern oft nur durch widrige Lebensverhältnisse pmu_022.018
hervorgerufen, denen sie nicht gewachsen waren. Richtig ist auch, daß pmu_022.019
manche schon ausgesprochen pathologische Zustände für die Materiallieferung pmu_022.020
zum Schaffen sehr günstig sein können (Trinkerphantasien bei Poe, pmu_022.021
Baudelaire). Trotzdem beweist ihre Ausgestaltung zu Kunstwerken, daß pmu_022.022
der Dichter noch im vollen Besitz seiner geistigen Funktionen war, denn pmu_022.023
die poetische Arbeit erfordert alle Fähigkeiten des Geistes.
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4. Eines der dunkelsten Gebiete der Psychologie betreten wir, wenn pmu_022.025
wir uns nunmehr dem Probleme der Bildung der dichterischen Persönlichkeit pmu_022.026
zuwenden, das wiederum nur ein Teil des Problems von pmu_022.027
der Bildung der Persönlichkeit überhaupt ist. Auch hier wird nur jemand, pmu_022.028
der nie hineingeblickt hat in die unendliche Verflochtenheit der menschlichen pmu_022.029
Seele, einen einheitlichen Leisten verlangen, über den alles sich pmu_022.030
solle schustern lassen. Auch hier wird unsre Aufgabe sein, nicht alles auf pmu_022.031
ein Schema zu bringen, sondern im Gegenteil die Fülle der Verschiedenheiten pmu_022.032
wenigstens anzudeuten. Eine Zeitlang glaubte man eine einheitliche pmu_022.033
Formel zu besitzen, die den Schlüssel zu allen Fragen der Jndividuation pmu_022.034
abzugeben vermöchte. Taine war ihr Vater, und mit seinen Faktoren pmu_022.035
wie Milieu, Rasse, Moment und spezifischer Anlage glaubte er, pmu_022.036
und noch viel doktrinärer seine Schüler, jede Künstlerindividualität genau pmu_022.037
bestimmen zu können. Heute glauben wohl wenige mehr an diese Formel, pmu_022.038
die gewiß manche Handweise gibt, aber nirgends eine wirkliche Erklärung,
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