Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_024.001 Was nun die Schätzung der Jndividualität anlangt, die uns pmu_024.015 pmu_024.001 Was nun die Schätzung der Jndividualität anlangt, die uns pmu_024.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0034" n="24"/><lb n="pmu_024.001"/> auch im Gegensatz zu allen Einflüssen der Umgebung entwickelt. <lb n="pmu_024.002"/> Hierin könnte man gewiß eine sich wehrende angeborene Veranlagung <lb n="pmu_024.003"/> sehen, man muß aber auch den in sehr vielen Menschen steckenden, biologisch <lb n="pmu_024.004"/> außerordentlich wichtigen negativistischen Trieb berücksichtigen, <lb n="pmu_024.005"/> der zum Widerspruch treibt, was also ein <hi rendition="#g">negativer</hi> Einfluß des Milieus <lb n="pmu_024.006"/> sein kann. Außerdem kann ein Einfluß entfernterer Milieus durch Lektüre <lb n="pmu_024.007"/> usw. stattfinden, der verstärkend eingreift. Kurz, es scheint uns, daß <lb n="pmu_024.008"/> wir nirgends genau sagen können, wieviel angeboren, wieviel durch <lb n="pmu_024.009"/> äußere Umstände herangebracht worden ist. Der Mensch in dem Alter, <lb n="pmu_024.010"/> wo er zu dichten beginnt, ist jedenfalls bereits ein so verwickeltes Produkt <lb n="pmu_024.011"/> beider Faktoren, daß eine Lösung nirgends möglich sein wird. Wir <lb n="pmu_024.012"/> beschränken uns darum im folgenden auf den vorliegenden Tatbestand, <lb n="pmu_024.013"/> ohne der Entstehung im einzelnen nachzuspüren.</p> <lb n="pmu_024.014"/> <p> Was nun die <hi rendition="#g">Schätzung der Jndividualität</hi> anlangt, die uns <lb n="pmu_024.015"/> Modernen etwas Selbstverständliches scheint, so sind auch da nicht alle <lb n="pmu_024.016"/> Zeiten gleich gewesen. Heute, wo das Suchen nach der persönlichen, der <lb n="pmu_024.017"/> individuellen Note fast zu einer Krankheit geworden ist, können wir uns <lb n="pmu_024.018"/> schwer zurückversetzen in eine Zeit, wo kein Mensch nach solchen Dingen <lb n="pmu_024.019"/> fragte. Und doch ist die Poesie früherer Zeiten vielfach durchaus konventionell. <lb n="pmu_024.020"/> Man hat von den Dichtern des Mittelalters mit einem gewissen <lb n="pmu_024.021"/> Rechte behauptet, daß sie einander glichen in ihren Gesängen wie die <lb n="pmu_024.022"/> Vögel des Waldes. Das ist sicher zu weit gegangen. Aber ihre Absicht <lb n="pmu_024.023"/> lag wohl in der Regel nicht darin, als möglichst originell zu gelten. Der <lb n="pmu_024.024"/> französische Soziologe Tarde unterscheidet „Zeitalter der Gewohnheit“ <lb n="pmu_024.025"/> von „Zeitaltern der Mode“. Jn jenen sucht man das Alte, in diesen das <lb n="pmu_024.026"/> Neue. Jedenfalls gibt es Zeiten des <hi rendition="#g">konventionellen</hi> und Zeiten des <lb n="pmu_024.027"/> <hi rendition="#g">individuellen</hi> Seelenlebens. Man kann vielleicht mit Lamprecht sogar <lb n="pmu_024.028"/> als besondere Zuspitzung des letzteren das des subjektiven Seelenlebens <lb n="pmu_024.029"/> unterscheiden. Für unsre Zwecke genügt es, in der Hauptsache einen <lb n="pmu_024.030"/> Unterschied zwischen <hi rendition="#g">konventionellen und individuellen Dichtern</hi> <lb n="pmu_024.031"/> aufzustellen, je nachdem es in ihrer Tendenz lag, individuell zu arbeiten <lb n="pmu_024.032"/> oder nicht. Dabei ist es offenbar, daß starke Persönlichkeiten sich <lb n="pmu_024.033"/> auch in Zeiten konventionellen Seelenlebens geltend gemacht haben. So <lb n="pmu_024.034"/> wird es der starken Persönlichkeit Wolframs von Eschenbach von seinem <lb n="pmu_024.035"/> Feinde Gottfried von Straßburg vorgeworfen als bitterer Tadel, daß er <lb n="pmu_024.036"/> seine eigenen Wege zu gehen versuche. Jm übrigen bestehen hier bereits <lb n="pmu_024.037"/> manche Korrelationen mit den gleich zu behandelnden „Ausdrucksdichtern“ <lb n="pmu_024.038"/> und „Gestaltungsdichtern“, indem sehr markante Persönlichkeiten </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0034]
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auch im Gegensatz zu allen Einflüssen der Umgebung entwickelt. pmu_024.002
Hierin könnte man gewiß eine sich wehrende angeborene Veranlagung pmu_024.003
sehen, man muß aber auch den in sehr vielen Menschen steckenden, biologisch pmu_024.004
außerordentlich wichtigen negativistischen Trieb berücksichtigen, pmu_024.005
der zum Widerspruch treibt, was also ein negativer Einfluß des Milieus pmu_024.006
sein kann. Außerdem kann ein Einfluß entfernterer Milieus durch Lektüre pmu_024.007
usw. stattfinden, der verstärkend eingreift. Kurz, es scheint uns, daß pmu_024.008
wir nirgends genau sagen können, wieviel angeboren, wieviel durch pmu_024.009
äußere Umstände herangebracht worden ist. Der Mensch in dem Alter, pmu_024.010
wo er zu dichten beginnt, ist jedenfalls bereits ein so verwickeltes Produkt pmu_024.011
beider Faktoren, daß eine Lösung nirgends möglich sein wird. Wir pmu_024.012
beschränken uns darum im folgenden auf den vorliegenden Tatbestand, pmu_024.013
ohne der Entstehung im einzelnen nachzuspüren.
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Was nun die Schätzung der Jndividualität anlangt, die uns pmu_024.015
Modernen etwas Selbstverständliches scheint, so sind auch da nicht alle pmu_024.016
Zeiten gleich gewesen. Heute, wo das Suchen nach der persönlichen, der pmu_024.017
individuellen Note fast zu einer Krankheit geworden ist, können wir uns pmu_024.018
schwer zurückversetzen in eine Zeit, wo kein Mensch nach solchen Dingen pmu_024.019
fragte. Und doch ist die Poesie früherer Zeiten vielfach durchaus konventionell. pmu_024.020
Man hat von den Dichtern des Mittelalters mit einem gewissen pmu_024.021
Rechte behauptet, daß sie einander glichen in ihren Gesängen wie die pmu_024.022
Vögel des Waldes. Das ist sicher zu weit gegangen. Aber ihre Absicht pmu_024.023
lag wohl in der Regel nicht darin, als möglichst originell zu gelten. Der pmu_024.024
französische Soziologe Tarde unterscheidet „Zeitalter der Gewohnheit“ pmu_024.025
von „Zeitaltern der Mode“. Jn jenen sucht man das Alte, in diesen das pmu_024.026
Neue. Jedenfalls gibt es Zeiten des konventionellen und Zeiten des pmu_024.027
individuellen Seelenlebens. Man kann vielleicht mit Lamprecht sogar pmu_024.028
als besondere Zuspitzung des letzteren das des subjektiven Seelenlebens pmu_024.029
unterscheiden. Für unsre Zwecke genügt es, in der Hauptsache einen pmu_024.030
Unterschied zwischen konventionellen und individuellen Dichtern pmu_024.031
aufzustellen, je nachdem es in ihrer Tendenz lag, individuell zu arbeiten pmu_024.032
oder nicht. Dabei ist es offenbar, daß starke Persönlichkeiten sich pmu_024.033
auch in Zeiten konventionellen Seelenlebens geltend gemacht haben. So pmu_024.034
wird es der starken Persönlichkeit Wolframs von Eschenbach von seinem pmu_024.035
Feinde Gottfried von Straßburg vorgeworfen als bitterer Tadel, daß er pmu_024.036
seine eigenen Wege zu gehen versuche. Jm übrigen bestehen hier bereits pmu_024.037
manche Korrelationen mit den gleich zu behandelnden „Ausdrucksdichtern“ pmu_024.038
und „Gestaltungsdichtern“, indem sehr markante Persönlichkeiten
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