Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_025.001 5. Eine weitere Frage, die wir uns vorlegen, wird sein: Was treibt pmu_025.005 Es scheint uns nun die Sache so zu liegen, daß fast alle Dichter von pmu_025.037 pmu_025.001 5. Eine weitere Frage, die wir uns vorlegen, wird sein: Was treibt pmu_025.005 Es scheint uns nun die Sache so zu liegen, daß fast alle Dichter von pmu_025.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0035" n="25"/><lb n="pmu_025.001"/> meist ihr individuelles Erleben auszusprechen streben, während Dichter <lb n="pmu_025.002"/> von mehr konventionellem Seelenleben mehr auf die objektive Gestaltung <lb n="pmu_025.003"/> des Stoffes sehen. Jdentisch aber sind diese Typen keineswegs!</p> <lb n="pmu_025.004"/> </div> <div n="3"> <p> 5. Eine weitere Frage, die wir uns vorlegen, wird sein: Was treibt <lb n="pmu_025.005"/> den Dichter zum Schaffen? Zwei Antworten liegen da vor, deren jede <lb n="pmu_025.006"/> begeisterte Zustimmung gefunden hat. Die erste Antwort lautet: Der <lb n="pmu_025.007"/> Dichter schafft, um inneren Zuständen <hi rendition="#g">Ausdruck</hi> zu verleihen, sich zu <lb n="pmu_025.008"/> befreien von seelischen Spannungen, indem er sie ausspricht. Jch nenne <lb n="pmu_025.009"/> diese Theorie die <hi rendition="#g">Ausdruckstheorie.</hi> Man hat viele Dichter zu Zeugen <lb n="pmu_025.010"/> dieser Anschauung angeführt. Vor allem findet man bei Goethe unzählige <lb n="pmu_025.011"/> Stellen der Art, worin er sein Dichten als große Konfession usw. bezeichnet. <lb n="pmu_025.012"/> Auch Hebbel hat oft derartiges ausgesprochen: „Jst dein Gedicht dir <lb n="pmu_025.013"/> etwas anderes, als was andern ihr Ach oder ihr Oh ist, so ist es nichts. <lb n="pmu_025.014"/> Wenn dich ein menschlicher Zustand erfaßt hat und dir keine Ruhe läßt, <lb n="pmu_025.015"/> und du ihn aussprechen, das heißt auflösen mußt, wenn er dich nicht erdrücken <lb n="pmu_025.016"/> soll, dann hast du Beruf ein Gedicht zu schreiben, sonst nicht!“ <lb n="pmu_025.017"/> Ähnlich sagt Jbsen: Dichten sei „Gerichtstag halten über sein eigen Jch“. <lb n="pmu_025.018"/> Es ist offenbar, daß die Ausdruckstheorie viel Richtiges enthält. Jndessen <lb n="pmu_025.019"/> ist sie nicht erschöpfend. Tatsächlich ist ein Sonett, eine fünfaktige Tragödie, <lb n="pmu_025.020"/> ein Epos etwas andres als ein Ach und Oh. Niemals wäre aus der <lb n="pmu_025.021"/> Ausdruckstheorie allein zu begreifen, daß jene Formen sich gebildet haben. <lb n="pmu_025.022"/> Hier nun setzt die andre, objektivere Theorie ein, die das dichterische Schaffen <lb n="pmu_025.023"/> aus einem „Spieltrieb“, besser gesagt, einer Tendenz zum Formen, Gestalten <lb n="pmu_025.024"/> und Bilden herleiten will, deren Existenz ohne Zweifel im Menschen <lb n="pmu_025.025"/> besteht. Jch nenne diese Theorie die <hi rendition="#g">Gestaltungstheorie.</hi> Man <lb n="pmu_025.026"/> hat als wichtigste der Äußerungen dieses Gestaltungsbedürfnisses des Menschen <lb n="pmu_025.027"/> den „<hi rendition="#g">Nachahmungstrieb</hi>“ hervorgehoben. Jndessen ist dieser für <lb n="pmu_025.028"/> uns nur ein Spezialfall eines noch allgemeineren Gestaltungstriebes. Die <lb n="pmu_025.029"/> Nachahmung war nur in mancher Hinsicht die nächstliegende, ökonomischste <lb n="pmu_025.030"/> Form der Gestaltung. Jndessen genügt auch diese Theorie nicht <lb n="pmu_025.031"/> ausschließlich. Weder die Abschilderung und Nacherzählung großer Geschehnisse, <lb n="pmu_025.032"/> noch auch jedes freie Erfinden von Geschichten sind ohne weiteres <lb n="pmu_025.033"/> Dichtungen. Damit sie als solche empfunden werden, müssen sie eine <lb n="pmu_025.034"/> suggestive, zündende Macht in sich tragen, die durchaus nicht jeder Gestaltung <lb n="pmu_025.035"/> innewohnt.</p> <lb n="pmu_025.036"/> <p> Es scheint uns nun die Sache so zu liegen, daß fast alle Dichter von <lb n="pmu_025.037"/> <hi rendition="#g">beiden Tendenzen nebeneinander</hi> beseelt waren. Weder die eine <lb n="pmu_025.038"/> noch die andre allein erklärt das Wesen des dichterischen Schaffens, sondern </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0035]
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meist ihr individuelles Erleben auszusprechen streben, während Dichter pmu_025.002
von mehr konventionellem Seelenleben mehr auf die objektive Gestaltung pmu_025.003
des Stoffes sehen. Jdentisch aber sind diese Typen keineswegs!
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5. Eine weitere Frage, die wir uns vorlegen, wird sein: Was treibt pmu_025.005
den Dichter zum Schaffen? Zwei Antworten liegen da vor, deren jede pmu_025.006
begeisterte Zustimmung gefunden hat. Die erste Antwort lautet: Der pmu_025.007
Dichter schafft, um inneren Zuständen Ausdruck zu verleihen, sich zu pmu_025.008
befreien von seelischen Spannungen, indem er sie ausspricht. Jch nenne pmu_025.009
diese Theorie die Ausdruckstheorie. Man hat viele Dichter zu Zeugen pmu_025.010
dieser Anschauung angeführt. Vor allem findet man bei Goethe unzählige pmu_025.011
Stellen der Art, worin er sein Dichten als große Konfession usw. bezeichnet. pmu_025.012
Auch Hebbel hat oft derartiges ausgesprochen: „Jst dein Gedicht dir pmu_025.013
etwas anderes, als was andern ihr Ach oder ihr Oh ist, so ist es nichts. pmu_025.014
Wenn dich ein menschlicher Zustand erfaßt hat und dir keine Ruhe läßt, pmu_025.015
und du ihn aussprechen, das heißt auflösen mußt, wenn er dich nicht erdrücken pmu_025.016
soll, dann hast du Beruf ein Gedicht zu schreiben, sonst nicht!“ pmu_025.017
Ähnlich sagt Jbsen: Dichten sei „Gerichtstag halten über sein eigen Jch“. pmu_025.018
Es ist offenbar, daß die Ausdruckstheorie viel Richtiges enthält. Jndessen pmu_025.019
ist sie nicht erschöpfend. Tatsächlich ist ein Sonett, eine fünfaktige Tragödie, pmu_025.020
ein Epos etwas andres als ein Ach und Oh. Niemals wäre aus der pmu_025.021
Ausdruckstheorie allein zu begreifen, daß jene Formen sich gebildet haben. pmu_025.022
Hier nun setzt die andre, objektivere Theorie ein, die das dichterische Schaffen pmu_025.023
aus einem „Spieltrieb“, besser gesagt, einer Tendenz zum Formen, Gestalten pmu_025.024
und Bilden herleiten will, deren Existenz ohne Zweifel im Menschen pmu_025.025
besteht. Jch nenne diese Theorie die Gestaltungstheorie. Man pmu_025.026
hat als wichtigste der Äußerungen dieses Gestaltungsbedürfnisses des Menschen pmu_025.027
den „Nachahmungstrieb“ hervorgehoben. Jndessen ist dieser für pmu_025.028
uns nur ein Spezialfall eines noch allgemeineren Gestaltungstriebes. Die pmu_025.029
Nachahmung war nur in mancher Hinsicht die nächstliegende, ökonomischste pmu_025.030
Form der Gestaltung. Jndessen genügt auch diese Theorie nicht pmu_025.031
ausschließlich. Weder die Abschilderung und Nacherzählung großer Geschehnisse, pmu_025.032
noch auch jedes freie Erfinden von Geschichten sind ohne weiteres pmu_025.033
Dichtungen. Damit sie als solche empfunden werden, müssen sie eine pmu_025.034
suggestive, zündende Macht in sich tragen, die durchaus nicht jeder Gestaltung pmu_025.035
innewohnt.
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Es scheint uns nun die Sache so zu liegen, daß fast alle Dichter von pmu_025.037
beiden Tendenzen nebeneinander beseelt waren. Weder die eine pmu_025.038
noch die andre allein erklärt das Wesen des dichterischen Schaffens, sondern
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