Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_026.001 Dabei jedoch ist es offensichtlich, daß wir zwei ganz verschiedene pmu_026.006 Anders der Gestaltungsdichter. Für ihn besteht nur eine allgemeine pmu_026.017 pmu_026.001 Dabei jedoch ist es offensichtlich, daß wir zwei ganz verschiedene pmu_026.006 Anders der Gestaltungsdichter. Für ihn besteht nur eine allgemeine pmu_026.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0036" n="26"/><lb n="pmu_026.001"/> erst <hi rendition="#g">beide zusammen.</hi> Jede große Dichtung ist einmal Ausdruck <lb n="pmu_026.002"/> seelischer Zustände, andrerseits aber auch das Werk jener dichterischen Gestaltungsfreude, <lb n="pmu_026.003"/> die ein Ganzes, Rundes, Abgeschlossenes zur Freude für <lb n="pmu_026.004"/> sich und andre hinstellen will.</p> <lb n="pmu_026.005"/> <p> Dabei jedoch ist es offensichtlich, daß wir zwei ganz verschiedene <lb n="pmu_026.006"/> Dichtertypen haben, je nachdem sie mehr <hi rendition="#g">Ausdrucksdichter</hi> oder mehr <lb n="pmu_026.007"/> <hi rendition="#g">Gestaltungsdichter</hi> sind. So nenne ich die beiden Typen. Für den <lb n="pmu_026.008"/> Ausdrucksdichter ist sein seelischer Zustand das Primäre, er sucht sich irgendeine <lb n="pmu_026.009"/> Form, die ihm Symbol wird für sein Erleben. Stets ist bei seinen <lb n="pmu_026.010"/> Werken das subjektive Erlebnis erkennbar. Man wird solche Dichter <lb n="pmu_026.011"/> stets dann am besten verstehen, wenn man auch ihr Leben kennt. Solche <lb n="pmu_026.012"/> Ausdrucksdichter sind Goethe, Hebbel, überhaupt die meisten Dichter der <lb n="pmu_026.013"/> neueren Zeit, die ja im ganzen durch das Vordringen des Subjektivismus <lb n="pmu_026.014"/> gekennzeichnet ist, obwohl auch in früheren Zeiten die Ausdrucksdichter <lb n="pmu_026.015"/> vorkamen. Man denke an Euripides, Moli<hi rendition="#aq">è</hi>re zum Teil.</p> <lb n="pmu_026.016"/> <p> Anders der <hi rendition="#g">Gestaltungs</hi>dichter. Für ihn besteht nur eine allgemeine <lb n="pmu_026.017"/> Tendenz zum Dichten. Es ist nicht zunächst ein spezifisches subjektives Erlebnis, <lb n="pmu_026.018"/> das zur Gestaltung drängt; nein, er sucht einen Stoff, der ihm geeignet <lb n="pmu_026.019"/> und wirksam scheint, und diesen baut er aus. Gewiß wird er, wenn <lb n="pmu_026.020"/> er überhaupt ein Dichter, kein nüchterner „Macher“ ist, auch aus dem eigenen <lb n="pmu_026.021"/> Erleben heraus seinen Gestalten Wärme und Leben leihen. Aber es <lb n="pmu_026.022"/> ist doch zunächst die Gestaltung, die uns interessiert, nicht die Person des <lb n="pmu_026.023"/> Dichters, die hinter seinem Werke verschwindet. Die meisten Dichter <lb n="pmu_026.024"/> früherer Jahrhunderte waren sicher Gestaltungsdichter. Der Versuch von <lb n="pmu_026.025"/> Georg Brandes, in Shakespeare alles als persönlichen Ausdruck zu fassen, <lb n="pmu_026.026"/> muß als fehlgeschlagen bezeichnet werden. Ebenso waren Sophokles, <lb n="pmu_026.027"/> Calderon, ja die meisten früheren, Gestaltungsdichter. Lessing z. B. hat <lb n="pmu_026.028"/> auch direkt ausgesprochen, wie er arbeitet, und er lehnt, weil es sich bei <lb n="pmu_026.029"/> ihm stets um eine bewußte, objektive Gestaltung des Stoffes gehandelt <lb n="pmu_026.030"/> hat, bescheiden für sich den Namen eines Dichters ab. Wir wissen freilich, <lb n="pmu_026.031"/> daß er doch kein kalter Macher war, sondern wir fühlen in seinen Gestalten <lb n="pmu_026.032"/> doch auch des Dichters Erleben, wenn es auch nicht das Primäre <lb n="pmu_026.033"/> war. Ebenso war Schiller beständig auf der Suche nach wirksamen Stoffen, <lb n="pmu_026.034"/> und erst sekundär wurden sie ihm zum Ausdruck seiner Seele. — Besonders <lb n="pmu_026.035"/> schroff hat E. G. Poe in seiner „<hi rendition="#aq">Philosophy of Composition</hi>“ den <lb n="pmu_026.036"/> Standpunkt vertreten, daß er nur ganz objektiv berechnend gestalte; seine <lb n="pmu_026.037"/> Werke scheinen indessen gegen diese Behauptung zu sprechen, die überhaupt <lb n="pmu_026.038"/> ziemlich paradox sich darstellt. Aber bis in die neueste Zeit hinein </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [26/0036]
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erst beide zusammen. Jede große Dichtung ist einmal Ausdruck pmu_026.002
seelischer Zustände, andrerseits aber auch das Werk jener dichterischen Gestaltungsfreude, pmu_026.003
die ein Ganzes, Rundes, Abgeschlossenes zur Freude für pmu_026.004
sich und andre hinstellen will.
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Dabei jedoch ist es offensichtlich, daß wir zwei ganz verschiedene pmu_026.006
Dichtertypen haben, je nachdem sie mehr Ausdrucksdichter oder mehr pmu_026.007
Gestaltungsdichter sind. So nenne ich die beiden Typen. Für den pmu_026.008
Ausdrucksdichter ist sein seelischer Zustand das Primäre, er sucht sich irgendeine pmu_026.009
Form, die ihm Symbol wird für sein Erleben. Stets ist bei seinen pmu_026.010
Werken das subjektive Erlebnis erkennbar. Man wird solche Dichter pmu_026.011
stets dann am besten verstehen, wenn man auch ihr Leben kennt. Solche pmu_026.012
Ausdrucksdichter sind Goethe, Hebbel, überhaupt die meisten Dichter der pmu_026.013
neueren Zeit, die ja im ganzen durch das Vordringen des Subjektivismus pmu_026.014
gekennzeichnet ist, obwohl auch in früheren Zeiten die Ausdrucksdichter pmu_026.015
vorkamen. Man denke an Euripides, Molière zum Teil.
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Anders der Gestaltungsdichter. Für ihn besteht nur eine allgemeine pmu_026.017
Tendenz zum Dichten. Es ist nicht zunächst ein spezifisches subjektives Erlebnis, pmu_026.018
das zur Gestaltung drängt; nein, er sucht einen Stoff, der ihm geeignet pmu_026.019
und wirksam scheint, und diesen baut er aus. Gewiß wird er, wenn pmu_026.020
er überhaupt ein Dichter, kein nüchterner „Macher“ ist, auch aus dem eigenen pmu_026.021
Erleben heraus seinen Gestalten Wärme und Leben leihen. Aber es pmu_026.022
ist doch zunächst die Gestaltung, die uns interessiert, nicht die Person des pmu_026.023
Dichters, die hinter seinem Werke verschwindet. Die meisten Dichter pmu_026.024
früherer Jahrhunderte waren sicher Gestaltungsdichter. Der Versuch von pmu_026.025
Georg Brandes, in Shakespeare alles als persönlichen Ausdruck zu fassen, pmu_026.026
muß als fehlgeschlagen bezeichnet werden. Ebenso waren Sophokles, pmu_026.027
Calderon, ja die meisten früheren, Gestaltungsdichter. Lessing z. B. hat pmu_026.028
auch direkt ausgesprochen, wie er arbeitet, und er lehnt, weil es sich bei pmu_026.029
ihm stets um eine bewußte, objektive Gestaltung des Stoffes gehandelt pmu_026.030
hat, bescheiden für sich den Namen eines Dichters ab. Wir wissen freilich, pmu_026.031
daß er doch kein kalter Macher war, sondern wir fühlen in seinen Gestalten pmu_026.032
doch auch des Dichters Erleben, wenn es auch nicht das Primäre pmu_026.033
war. Ebenso war Schiller beständig auf der Suche nach wirksamen Stoffen, pmu_026.034
und erst sekundär wurden sie ihm zum Ausdruck seiner Seele. — Besonders pmu_026.035
schroff hat E. G. Poe in seiner „Philosophy of Composition“ den pmu_026.036
Standpunkt vertreten, daß er nur ganz objektiv berechnend gestalte; seine pmu_026.037
Werke scheinen indessen gegen diese Behauptung zu sprechen, die überhaupt pmu_026.038
ziemlich paradox sich darstellt. Aber bis in die neueste Zeit hinein
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