Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_082.001 2. Dabei müssen wir eine Unterscheidung berühren, die wir bisher pmu_082.018 pmu_082.001 2. Dabei müssen wir eine Unterscheidung berühren, die wir bisher pmu_082.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0092" n="82"/><lb n="pmu_082.001"/> so ist man schon zufrieden. Daneben freilich zeigen Leute wie <lb n="pmu_082.002"/> Flaubert, wie weit das „Gewissen des Ohres“, um mit Nietzsche zu reden, <lb n="pmu_082.003"/> getrieben werden kann. Die meisten Leute beachten die akustischen Werte <lb n="pmu_082.004"/> nur dann, wenn sie sehr störend sich geltend machen. Jedenfalls aber sind <lb n="pmu_082.005"/> in der Regel nach der positiven Seite hin die ideellen Werte die stärkeren. <lb n="pmu_082.006"/> Daher wird jene Zwiespältigkeit im Wesen der Sprache nicht empfunden, <lb n="pmu_082.007"/> wenn nur ganz ungefähr die Gefühlswirkung beider Faktoren harmoniert. <lb n="pmu_082.008"/> Daß bei den Gedichten, die sich am längsten halten, gerade diese Harmonie <lb n="pmu_082.009"/> beider Faktoren vollendet erreicht ist, stellt einen Hauptwert derselben <lb n="pmu_082.010"/> dar. Jm übrigen gibt es auch individuelle Verschiedenheiten der Bewertung. <lb n="pmu_082.011"/> Manche Zeiten und manche Völker gehen in der Vernachlässigung <lb n="pmu_082.012"/> eines der beiden Faktoren weiter als andre. Die Romanen scheinen <lb n="pmu_082.013"/> ein schärferes Ohr zu haben für die Klangwerte der Sprache, während <lb n="pmu_082.014"/> umgekehrt die Germanen kritischer sind gegen den Mangel an ideellen <lb n="pmu_082.015"/> Werten und sich selten so am bloßen Wortklang berauschen, wie die Romanen <lb n="pmu_082.016"/> es oftmals tun.</p> <lb n="pmu_082.017"/> </div> <div n="3"> <p> 2. Dabei müssen wir eine Unterscheidung berühren, die wir bisher <lb n="pmu_082.018"/> wenig beachtet haben: die zwischen <hi rendition="#g">Poesie und Prosa.</hi> Das gewöhnliche <lb n="pmu_082.019"/> Leben macht überhaupt keinen scharfen Unterschied, und tut es das <lb n="pmu_082.020"/> dennoch, so verfährt es in sehr primitiver Weise so, daß es die objektive, <lb n="pmu_082.021"/> akustisch-sprachliche Seite als Kriterium annimmt: alles, was in Versen <lb n="pmu_082.022"/> geschrieben ist, wird als Poesie bezeichnet; was nicht in Versen geht, heißt <lb n="pmu_082.023"/> Prosa. Daß diese grobe Scheidung wertlos ist, ergibt sich beim genauen <lb n="pmu_082.024"/> Hinsehen von selbst: die bekannten Memorierverse der Zumptschen Grammatik <lb n="pmu_082.025"/> sind zwar Verse, aber niemand wird sie als Poesie ansprechen. <lb n="pmu_082.026"/> Dagegen wird niemand leugnen, daß wir es in Goethes Werther oder <lb n="pmu_082.027"/> Schillers Kabale und Liebe mit Poesie zu tun haben, obwohl sie nicht in <lb n="pmu_082.028"/> Versen geschrieben sind. Es dürfte sich also von dieser Seite her keine <lb n="pmu_082.029"/> scharfe Scheidung gewinnen lassen. Überhaupt ist die Prosa kein logischer <lb n="pmu_082.030"/> Gegensatz zur Poesie, sondern nur eine Bezeichnung für die nichtversliche <lb n="pmu_082.031"/> Sprache. Prosa kann aber sehr wohl poetisch sein; alles das zeigt, daß im <lb n="pmu_082.032"/> Sinne einer scharfen Logik überhaupt keine Unterscheidung hier zu gewinnen <lb n="pmu_082.033"/> ist. Das, was die Prosa zur Poesie macht, kann überhaupt nicht <lb n="pmu_082.034"/> durch objektive Kriterien ermittelt werden, sondern nur psychologische <lb n="pmu_082.035"/> Momente können darüber Aufschluß geben. Nur aus der künstlerischen Absicht <lb n="pmu_082.036"/> des Schaffenden oder der Wirkung auf einen Hörer oder Leser können <lb n="pmu_082.037"/> wir erschließen, ob wir etwas als Poesie anzusehen haben. Natürlich <lb n="pmu_082.038"/> kommt damit wie bei allen psychologischen Definitionen ein subjektiver </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0092]
pmu_082.001
so ist man schon zufrieden. Daneben freilich zeigen Leute wie pmu_082.002
Flaubert, wie weit das „Gewissen des Ohres“, um mit Nietzsche zu reden, pmu_082.003
getrieben werden kann. Die meisten Leute beachten die akustischen Werte pmu_082.004
nur dann, wenn sie sehr störend sich geltend machen. Jedenfalls aber sind pmu_082.005
in der Regel nach der positiven Seite hin die ideellen Werte die stärkeren. pmu_082.006
Daher wird jene Zwiespältigkeit im Wesen der Sprache nicht empfunden, pmu_082.007
wenn nur ganz ungefähr die Gefühlswirkung beider Faktoren harmoniert. pmu_082.008
Daß bei den Gedichten, die sich am längsten halten, gerade diese Harmonie pmu_082.009
beider Faktoren vollendet erreicht ist, stellt einen Hauptwert derselben pmu_082.010
dar. Jm übrigen gibt es auch individuelle Verschiedenheiten der Bewertung. pmu_082.011
Manche Zeiten und manche Völker gehen in der Vernachlässigung pmu_082.012
eines der beiden Faktoren weiter als andre. Die Romanen scheinen pmu_082.013
ein schärferes Ohr zu haben für die Klangwerte der Sprache, während pmu_082.014
umgekehrt die Germanen kritischer sind gegen den Mangel an ideellen pmu_082.015
Werten und sich selten so am bloßen Wortklang berauschen, wie die Romanen pmu_082.016
es oftmals tun.
pmu_082.017
2. Dabei müssen wir eine Unterscheidung berühren, die wir bisher pmu_082.018
wenig beachtet haben: die zwischen Poesie und Prosa. Das gewöhnliche pmu_082.019
Leben macht überhaupt keinen scharfen Unterschied, und tut es das pmu_082.020
dennoch, so verfährt es in sehr primitiver Weise so, daß es die objektive, pmu_082.021
akustisch-sprachliche Seite als Kriterium annimmt: alles, was in Versen pmu_082.022
geschrieben ist, wird als Poesie bezeichnet; was nicht in Versen geht, heißt pmu_082.023
Prosa. Daß diese grobe Scheidung wertlos ist, ergibt sich beim genauen pmu_082.024
Hinsehen von selbst: die bekannten Memorierverse der Zumptschen Grammatik pmu_082.025
sind zwar Verse, aber niemand wird sie als Poesie ansprechen. pmu_082.026
Dagegen wird niemand leugnen, daß wir es in Goethes Werther oder pmu_082.027
Schillers Kabale und Liebe mit Poesie zu tun haben, obwohl sie nicht in pmu_082.028
Versen geschrieben sind. Es dürfte sich also von dieser Seite her keine pmu_082.029
scharfe Scheidung gewinnen lassen. Überhaupt ist die Prosa kein logischer pmu_082.030
Gegensatz zur Poesie, sondern nur eine Bezeichnung für die nichtversliche pmu_082.031
Sprache. Prosa kann aber sehr wohl poetisch sein; alles das zeigt, daß im pmu_082.032
Sinne einer scharfen Logik überhaupt keine Unterscheidung hier zu gewinnen pmu_082.033
ist. Das, was die Prosa zur Poesie macht, kann überhaupt nicht pmu_082.034
durch objektive Kriterien ermittelt werden, sondern nur psychologische pmu_082.035
Momente können darüber Aufschluß geben. Nur aus der künstlerischen Absicht pmu_082.036
des Schaffenden oder der Wirkung auf einen Hörer oder Leser können pmu_082.037
wir erschließen, ob wir etwas als Poesie anzusehen haben. Natürlich pmu_082.038
kommt damit wie bei allen psychologischen Definitionen ein subjektiver
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |