Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Gründe abwägen, das Für und Wider
bei einer Maßregel in Betracht ziehen, sind in
den gewöhnlichen Tribunalen und in den gewöhn-
lichen Staats-Theorieen beliebte Redensarten --
eben weil man nur mit Begriffen von Rechten
und von Interessen zu thun hat, die unter ein-
ander streiten, deren Advocaten jeder seine Sache
abgesondert so schwer und wichtig als möglich
darstellt, um durch die bloße Gewalt der Masse
die Masse des Gegners zu erdrücken. In den
wenigsten Fällen aber stehen Recht und Unrecht
vor dem Richter, in den meisten Fällen Recht
und Gegenrecht; in den wenigsten Fällen liegt
dem Richter die Frage vor: Soll die Eine Par-
thei oder die andre bestehen? In den meisten
Fällen ergeht an ihn die viel erhabnere Frage:
wie soll diese Parthei und jene mit ihr streitende
bestehen? --

Kurz, der Richter ist ja nicht bloß eine ver-
neinende und bejahende Maschine, er ist ja
nicht bloß Schiedsrichter oder Der, welcher vom
Himmel zwei Kugeln, eine schwarze und eine
weiße, um den Ausschlag zu geben, in die Hände
bekommen, während jede von den beiden Par-
theien nur Eine von beiden erhalten hat. Nein;
jede von den beiden Partheien hat einen doppel-
ten Charakter und ein doppeltes Interesse: 1)

Die Gruͤnde abwaͤgen, das Fuͤr und Wider
bei einer Maßregel in Betracht ziehen, ſind in
den gewoͤhnlichen Tribunalen und in den gewoͤhn-
lichen Staats-Theorieen beliebte Redensarten —
eben weil man nur mit Begriffen von Rechten
und von Intereſſen zu thun hat, die unter ein-
ander ſtreiten, deren Advocaten jeder ſeine Sache
abgeſondert ſo ſchwer und wichtig als moͤglich
darſtellt, um durch die bloße Gewalt der Maſſe
die Maſſe des Gegners zu erdruͤcken. In den
wenigſten Faͤllen aber ſtehen Recht und Unrecht
vor dem Richter, in den meiſten Faͤllen Recht
und Gegenrecht; in den wenigſten Faͤllen liegt
dem Richter die Frage vor: Soll die Eine Par-
thei oder die andre beſtehen? In den meiſten
Faͤllen ergeht an ihn die viel erhabnere Frage:
wie ſoll dieſe Parthei und jene mit ihr ſtreitende
beſtehen? —

Kurz, der Richter iſt ja nicht bloß eine ver-
neinende und bejahende Maſchine, er iſt ja
nicht bloß Schiedsrichter oder Der, welcher vom
Himmel zwei Kugeln, eine ſchwarze und eine
weiße, um den Ausſchlag zu geben, in die Haͤnde
bekommen, waͤhrend jede von den beiden Par-
theien nur Eine von beiden erhalten hat. Nein;
jede von den beiden Partheien hat einen doppel-
ten Charakter und ein doppeltes Intereſſe: 1)

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0204" n="170"/>
            <p>Die Gru&#x0364;nde abwa&#x0364;gen, das Fu&#x0364;r und Wider<lb/>
bei einer Maßregel in Betracht ziehen, &#x017F;ind in<lb/>
den gewo&#x0364;hnlichen Tribunalen und in den gewo&#x0364;hn-<lb/>
lichen Staats-Theorieen beliebte Redensarten &#x2014;<lb/>
eben weil man nur mit Begriffen von Rechten<lb/>
und von Intere&#x017F;&#x017F;en zu thun hat, die unter ein-<lb/>
ander &#x017F;treiten, deren Advocaten jeder &#x017F;eine Sache<lb/>
abge&#x017F;ondert &#x017F;o &#x017F;chwer und wichtig als mo&#x0364;glich<lb/>
dar&#x017F;tellt, um durch die bloße Gewalt der Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
die Ma&#x017F;&#x017F;e des Gegners zu erdru&#x0364;cken. In den<lb/>
wenig&#x017F;ten Fa&#x0364;llen aber &#x017F;tehen Recht und Unrecht<lb/>
vor dem Richter, in den mei&#x017F;ten Fa&#x0364;llen Recht<lb/>
und Gegenrecht; in den wenig&#x017F;ten Fa&#x0364;llen liegt<lb/>
dem Richter die Frage vor: Soll die Eine Par-<lb/>
thei <hi rendition="#g">oder</hi> die andre be&#x017F;tehen? In den mei&#x017F;ten<lb/>
Fa&#x0364;llen ergeht an ihn die viel erhabnere Frage:<lb/>
wie &#x017F;oll die&#x017F;e Parthei <hi rendition="#g">und</hi> jene mit ihr &#x017F;treitende<lb/>
be&#x017F;tehen? &#x2014;</p><lb/>
            <p>Kurz, der Richter i&#x017F;t ja nicht bloß eine ver-<lb/>
neinende und bejahende Ma&#x017F;chine, er i&#x017F;t ja<lb/>
nicht bloß Schiedsrichter oder Der, welcher vom<lb/>
Himmel zwei Kugeln, eine &#x017F;chwarze und eine<lb/>
weiße, um den Aus&#x017F;chlag zu geben, in die Ha&#x0364;nde<lb/>
bekommen, wa&#x0364;hrend jede von den beiden Par-<lb/>
theien nur Eine von beiden erhalten hat. Nein;<lb/>
jede von den beiden Partheien hat einen doppel-<lb/>
ten Charakter und ein doppeltes Intere&#x017F;&#x017F;e: 1)<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0204] Die Gruͤnde abwaͤgen, das Fuͤr und Wider bei einer Maßregel in Betracht ziehen, ſind in den gewoͤhnlichen Tribunalen und in den gewoͤhn- lichen Staats-Theorieen beliebte Redensarten — eben weil man nur mit Begriffen von Rechten und von Intereſſen zu thun hat, die unter ein- ander ſtreiten, deren Advocaten jeder ſeine Sache abgeſondert ſo ſchwer und wichtig als moͤglich darſtellt, um durch die bloße Gewalt der Maſſe die Maſſe des Gegners zu erdruͤcken. In den wenigſten Faͤllen aber ſtehen Recht und Unrecht vor dem Richter, in den meiſten Faͤllen Recht und Gegenrecht; in den wenigſten Faͤllen liegt dem Richter die Frage vor: Soll die Eine Par- thei oder die andre beſtehen? In den meiſten Faͤllen ergeht an ihn die viel erhabnere Frage: wie ſoll dieſe Parthei und jene mit ihr ſtreitende beſtehen? — Kurz, der Richter iſt ja nicht bloß eine ver- neinende und bejahende Maſchine, er iſt ja nicht bloß Schiedsrichter oder Der, welcher vom Himmel zwei Kugeln, eine ſchwarze und eine weiße, um den Ausſchlag zu geben, in die Haͤnde bekommen, waͤhrend jede von den beiden Par- theien nur Eine von beiden erhalten hat. Nein; jede von den beiden Partheien hat einen doppel- ten Charakter und ein doppeltes Intereſſe: 1)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/204
Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/204>, abgerufen am 19.05.2024.