ben zu behaupten, kurz, die eigentliche richter- liche Kunst nur von einzelnen schönen Gemü- thern geübt, doch keinesweges von der Staats- wissenschaft als erstes Object aller politischen Erziehung anerkannt wird: so glaubt man der Natur und dem Gemeinschaftlichen seinen Tri- but zu bezahlen, wenn man ihre Forderungen in das Bündel einer besonderen Wissenschaft, in das Naturrecht, zusammenwirft, wo sie denn von müßigen Köpfen, Jahr aus Jahr ein, in neue Systeme zerschmolzen werden, indessen der praktische Jurist ohne Geist und Leben die tod- ten Schlacken der positiven Gesetze abwägt, feilt und löthet, wie es das Bedürfniß des Tages verlangt, und das Streben jedes noch so ver- derbten Gemüthes nach einer lebendigen Einheit oder Idee des Rechtes unbefriedigt bleibt.
Diese richterliche Kunst, die Eine große Seite des Staatsmannes, welche uns in der er- sten Hälfte unsrer Unterhaltungen beschäftigen soll, wie in der zweiten die administrative Kunst (die Finanz-Kunst), wird auf unsern Rechtsschulen nicht gelehrt; ihre beiden Elemente werden zerstückt und jede von einem ganz ver- schiedenen Lehrstuhle herabgereicht, während die Erkenntniß der Elemente hier, wie überall, nichts bedeutet ohne die Kunst ihrer Verbindung. --
Müllers Elemente. I. [12]
ben zu behaupten, kurz, die eigentliche richter- liche Kunſt nur von einzelnen ſchoͤnen Gemuͤ- thern geuͤbt, doch keinesweges von der Staats- wiſſenſchaft als erſtes Object aller politiſchen Erziehung anerkannt wird: ſo glaubt man der Natur und dem Gemeinſchaftlichen ſeinen Tri- but zu bezahlen, wenn man ihre Forderungen in das Buͤndel einer beſonderen Wiſſenſchaft, in das Naturrecht, zuſammenwirft, wo ſie denn von muͤßigen Koͤpfen, Jahr aus Jahr ein, in neue Syſteme zerſchmolzen werden, indeſſen der praktiſche Juriſt ohne Geiſt und Leben die tod- ten Schlacken der poſitiven Geſetze abwaͤgt, feilt und loͤthet, wie es das Beduͤrfniß des Tages verlangt, und das Streben jedes noch ſo ver- derbten Gemuͤthes nach einer lebendigen Einheit oder Idee des Rechtes unbefriedigt bleibt.
Dieſe richterliche Kunſt, die Eine große Seite des Staatsmannes, welche uns in der er- ſten Haͤlfte unſrer Unterhaltungen beſchaͤftigen ſoll, wie in der zweiten die adminiſtrative Kunſt (die Finanz-Kunſt), wird auf unſern Rechtsſchulen nicht gelehrt; ihre beiden Elemente werden zerſtuͤckt und jede von einem ganz ver- ſchiedenen Lehrſtuhle herabgereicht, waͤhrend die Erkenntniß der Elemente hier, wie uͤberall, nichts bedeutet ohne die Kunſt ihrer Verbindung. —
Müllers Elemente. I. [12]
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ben zu behaupten, kurz, die eigentliche richter-
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thern geuͤbt, doch keinesweges von der Staats-
wiſſenſchaft als erſtes Object aller politiſchen
Erziehung anerkannt wird: ſo glaubt man der
Natur und dem Gemeinſchaftlichen ſeinen Tri-
but zu bezahlen, wenn man ihre Forderungen
in das Buͤndel einer beſonderen Wiſſenſchaft,
in das Naturrecht, zuſammenwirft, wo ſie denn
von muͤßigen Koͤpfen, Jahr aus Jahr ein, in
neue Syſteme zerſchmolzen werden, indeſſen der
praktiſche Juriſt ohne Geiſt und Leben die tod-
ten Schlacken der poſitiven Geſetze abwaͤgt, feilt
und loͤthet, wie es das Beduͤrfniß des Tages
verlangt, und das Streben jedes noch ſo ver-
derbten Gemuͤthes nach einer lebendigen Einheit
oder Idee des Rechtes unbefriedigt bleibt.
Dieſe richterliche Kunſt, die Eine große
Seite des Staatsmannes, welche uns in der er-
ſten Haͤlfte unſrer Unterhaltungen beſchaͤftigen
ſoll, wie in der zweiten die adminiſtrative
Kunſt (die Finanz-Kunſt), wird auf unſern
Rechtsſchulen nicht gelehrt; ihre beiden Elemente
werden zerſtuͤckt und jede von einem ganz ver-
ſchiedenen Lehrſtuhle herabgereicht, waͤhrend die
Erkenntniß der Elemente hier, wie uͤberall, nichts
bedeutet ohne die Kunſt ihrer Verbindung. —
Müllers Elemente. I. [12]
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/211>, abgerufen am 22.11.2024.
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