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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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nicht erteilen, weil der Shintoismus eine Morallehre
nicht besitzt. In dieser Beziehung giebt es keine ödere
und geistlosere religiöse Urkunde als das Kojiki. Es
ist ja wohl wahr, daß der Shintoismus staatserhaltend
wirkt, insofern er eine starke Stütze der Monarchie ist,
auch wird durch die Ahnenverehrung die Pietät gegen
die Vergangenheit geweckt; doch sind auch dieses nur
indirekte Wirkungen des Systems, aber keine ausdrück-
lichen Gebote. Bis vor kurzem hat man das Fehlen
einer Sittenlehre damit zu erklären versucht, daß man
sagte, die Japaner seien von Natur so gut, daß sie
sittlicher Vorschriften nicht bedürften; infolgedessen darf
man die shintoistische Sittlichkeit als ein Sichausleben
der eigenen Natur bezeichnen. Das ist heute teilweise
anders geworden. Der Kampf um die Existenz zwingt
auch den Shintoismus zu Kompromissen mit den An-
forderungen der Gegenwart, und so hat er sich bequemt,
auch kurze Broschüren moralischen Inhalts herauszu-
geben. Dieselben sind aber nichts weiter als Abklatsch
aus dem Konfuzianismus, mit welchem er sich gegen-
wärtig zu Schutz und Trutz verbunden hat.

Je mehr aber der Shintoismus die Moral des
Herzens und Lebens vernachlässigt hat, desto mehr
Gewicht legt er auf Äußerlichkeiten, im besondern auf
Ceremonien der Reinigung. Wie bei andern Völkern,
so giebt es auch hier gewisse Dinge, welche, wie Ge-
burt und Tod, verunreinigen. Diese Verunreinigung
wird durch Abwaschung des Körpers mit Wasser wieder
gutgemacht (vergl. das Bad des Izanagi nach seiner
Rückkehr aus dem Totenreich). Ehe der Priester zum
Tempel geht, hat er sich einer Reinigung zu unter-
ziehen. Während gewöhnliche Besucher das Haiden des
Tempels nicht betreten, ist das mir und meinen beiden

nicht erteilen, weil der Shintoismus eine Morallehre
nicht beſitzt. In dieſer Beziehung giebt es keine ödere
und geiſtloſere religiöſe Urkunde als das Kojiki. Es
iſt ja wohl wahr, daß der Shintoismus ſtaatserhaltend
wirkt, inſofern er eine ſtarke Stütze der Monarchie iſt,
auch wird durch die Ahnenverehrung die Pietät gegen
die Vergangenheit geweckt; doch ſind auch dieſes nur
indirekte Wirkungen des Syſtems, aber keine ausdrück-
lichen Gebote. Bis vor kurzem hat man das Fehlen
einer Sittenlehre damit zu erklären verſucht, daß man
ſagte, die Japaner ſeien von Natur ſo gut, daß ſie
ſittlicher Vorſchriften nicht bedürften; infolgedeſſen darf
man die ſhintoiſtiſche Sittlichkeit als ein Sichausleben
der eigenen Natur bezeichnen. Das iſt heute teilweiſe
anders geworden. Der Kampf um die Exiſtenz zwingt
auch den Shintoismus zu Kompromiſſen mit den An-
forderungen der Gegenwart, und ſo hat er ſich bequemt,
auch kurze Broſchüren moraliſchen Inhalts herauszu-
geben. Dieſelben ſind aber nichts weiter als Abklatſch
aus dem Konfuzianismus, mit welchem er ſich gegen-
wärtig zu Schutz und Trutz verbunden hat.

Je mehr aber der Shintoismus die Moral des
Herzens und Lebens vernachläſſigt hat, deſto mehr
Gewicht legt er auf Äußerlichkeiten, im beſondern auf
Ceremonien der Reinigung. Wie bei andern Völkern,
ſo giebt es auch hier gewiſſe Dinge, welche, wie Ge-
burt und Tod, verunreinigen. Dieſe Verunreinigung
wird durch Abwaſchung des Körpers mit Waſſer wieder
gutgemacht (vergl. das Bad des Izanagi nach ſeiner
Rückkehr aus dem Totenreich). Ehe der Prieſter zum
Tempel geht, hat er ſich einer Reinigung zu unter-
ziehen. Während gewöhnliche Beſucher das Haiden des
Tempels nicht betreten, iſt das mir und meinen beiden

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[208/0222] nicht erteilen, weil der Shintoismus eine Morallehre nicht beſitzt. In dieſer Beziehung giebt es keine ödere und geiſtloſere religiöſe Urkunde als das Kojiki. Es iſt ja wohl wahr, daß der Shintoismus ſtaatserhaltend wirkt, inſofern er eine ſtarke Stütze der Monarchie iſt, auch wird durch die Ahnenverehrung die Pietät gegen die Vergangenheit geweckt; doch ſind auch dieſes nur indirekte Wirkungen des Syſtems, aber keine ausdrück- lichen Gebote. Bis vor kurzem hat man das Fehlen einer Sittenlehre damit zu erklären verſucht, daß man ſagte, die Japaner ſeien von Natur ſo gut, daß ſie ſittlicher Vorſchriften nicht bedürften; infolgedeſſen darf man die ſhintoiſtiſche Sittlichkeit als ein Sichausleben der eigenen Natur bezeichnen. Das iſt heute teilweiſe anders geworden. Der Kampf um die Exiſtenz zwingt auch den Shintoismus zu Kompromiſſen mit den An- forderungen der Gegenwart, und ſo hat er ſich bequemt, auch kurze Broſchüren moraliſchen Inhalts herauszu- geben. Dieſelben ſind aber nichts weiter als Abklatſch aus dem Konfuzianismus, mit welchem er ſich gegen- wärtig zu Schutz und Trutz verbunden hat. Je mehr aber der Shintoismus die Moral des Herzens und Lebens vernachläſſigt hat, deſto mehr Gewicht legt er auf Äußerlichkeiten, im beſondern auf Ceremonien der Reinigung. Wie bei andern Völkern, ſo giebt es auch hier gewiſſe Dinge, welche, wie Ge- burt und Tod, verunreinigen. Dieſe Verunreinigung wird durch Abwaſchung des Körpers mit Waſſer wieder gutgemacht (vergl. das Bad des Izanagi nach ſeiner Rückkehr aus dem Totenreich). Ehe der Prieſter zum Tempel geht, hat er ſich einer Reinigung zu unter- ziehen. Während gewöhnliche Beſucher das Haiden des Tempels nicht betreten, iſt das mir und meinen beiden

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/222>, abgerufen am 21.11.2024.